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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Strich der Wind immer mit so liebevoller Hand über die Gesichter? Wo war ich gewesen? Weshalb hatte ich es nicht gesehen? Weshalb hatte ich es nicht bemerkt?
    Am nächsten Morgen wurde ich beauftragt, Rahim die Botschaft meines Vaters zu überbringen. Bei der ersten Gelegenheit warf ich ein Stück Papier mit einem Stein auf die andere Seite der Mauer.
    Am Dienstag war ich bereits früh am Morgen ungeduldig. Ich war durcheinander. Chodjasteh kam stündlich angerannt und fragte, »Wie sieht er aus?«
    »Laß mich in Ruhe, Chodjasteh. Er wird schon kommen. Durch das Fenster kannst du ihn nach Herzenslust betrachten.« Ich dachte, daß es einen umfangreichen Empfang geben würde. So wie man den Prinzen und seine Mutter bewirtet hatte. Doch davon war keine Rede. Meine Mutter wirkte wie eine Fiebernde. Sie fragte nicht mal nach Manuchehr. Die Amme zündete den Samowar anund stellte ein Gefäß mit altbackenem Kichererbesen-Gebäck in einen Winkel des Fünftüren-Zimmers. Eine quälende Stille lastete auf dem gesamten Haus. Die Stille besiegter Kaiser. Mein Vater saß müde und lustlos direkt unter dem Lüster auf einem der Stühle, die einen Blick auf den Hof erlaubten. Die Fenster hatte man hochgeschoben, und Hadj Ali hatte wie an anderen Tagen den Hof gewässert und gefegt. Die Amme stellte eine Schale mit schönen, roten Wassermelonenstücken neben das Gebäck auf den Tisch. Nur soviel. Vor meinem Vater stand ein Stuhl.
    Eine Stunde vor der Abenddämmerung traf er ein. Chodjasteh saß neben mir im Nebenzimmer. Meine Mutter war im Anrichteraum geblieben, und ich war mir sicher, daß sie dort hinter der verschlossenen Tür stehen würde, um ihn durchs Fenster ungehindert zu betrachten. Im Hof aus relativ weiter Entfernung musterten ihn Dadde Chanum und die Amme neugierig vom Scheitel bis zur Sohle.
    Er trug ein weites Obergewand und eine neue Hose. Sein Hüftschal hatte auf der Rückseite drei Falten. Seine Stoffschuhe waren neu, und ich bemerkte zum ersten Mal, daß er die Fersen hochgezogen hatte. Sein wirres Haar sah unter der Filzkappe hervor und bedeckte seinen Nacken. Ich wünschte mir, daß er die Kappe schneller abnahm, damit ihm seine verschlungenen Locken in die Stirn fielen und Chodjasteh sie sehen und meinen Geschmack bewundern könnte. Wieder stand sein Hemdkragen ein wenig offen. Anscheinend hatte er keinen Knopf oder Rahim erstickte, wenn er den Hemdkragen schloß. Auf Anweisung der Amme stieg er die Stufen zum Eiwan hoch und betrat das Fünftüren-Zimmer. Sobald er auftauchte, zuckte mein Vater zusammen und schlug ein Bein übers andere. Er war an der Tür stehengeblieben und hatte die Hände vor sich aufeinandergelegt. Mein Vater hatte uns den Rücken zugewandt, und wir betrachteten verstohlen den anderen, der uns gegenüberstand. Ich bemerkte, daß seine festen Hände ein wenig zitterten. Schüchtern sagte er, »Ich grüße Sie.«
    Mein Vater sagte steif, »Salaam. Komm herein. Nein, nein, du brauchst deine Schuhe nicht auszuziehen. Komm herein.«
    Es war, als bohrte sich ein Dorn in mein Herz.
    Er trat ein und ließ einen Blick des Erstaunens und der Bewunderung im Zimmer kreisen. Er nahm die Kappe ab und hielt sie in denHänden. Vor Aufregung verbog er sie. Sein Haar fiel herab. Mein Vater sagte in einem Ton, der seinen Mißmut und Widerwillen deutlich verriet, »Setz dich!« Er wollte sich auf den Boden setzen. Mein Vater sagte gebieterisch, »Nicht dorthin, auf den Stuhl.«
    Chodjasteh lachte auf und fragte, »Den begehrst du?«
    Ich sagte, »Halt den Mund. Er wird es merken.«
    Doch ich war verdrossen. Ich ärgerte mich nicht nur über das herrische Verhalten meines Vaters, sondern hatte auch nicht erwartet, daß der andere so folgsam und eingeschüchtert sein würde. Er setzte sich auf die Stuhlkante. Die Beine hatte er zusammengepreßt und die Hände auf die Knie gelegt. Ich sagte mir, ›Warte ab, ob mein Vater ihn weiter so behandelt, wenn er Offizier geworden ist!‹ Ich stellte ihn mir in Uniform mit Stiefeln, Kappe und Degen vor, und mir schwindelte.
    Mein Vater fragte, »Wie alt bist du?« Er beantwortete seine Frage, während er erneut das Zimmer ringsum musterte. Wieder fragte mein Vater, »Wo ist dein Vater?«
    »Ich war noch ein Kind, als er starb.«
    »So, so. Dann ist also dein Vater verstorben. Wie steht es mit deiner Mutter. Gibt es die noch?«
    »Jawohl.«
    »Und wen sonst?«
    »Niemanden.«
    Mein Vater, der sich offenbar fürchtete, weiter zu bohren, sagte, »Du begehrst meine

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