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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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ein Dorf, ganz ähnlich dem seinen, und er kam an vielen hundert verhungerten Flüchtlingen vorbei, die am Straßenrand lagen. Er verließ die Straße, um sich unter den Bäumen einen Schlafplatz zu suchen, damit ihn nicht jemand umbrachte, um ihm die Oud zu stehlen. Im Wald sah er plötzlich einen schwarzen Schatten, der sich vor ihm erhob. Im ersten Augenblick dachte der Junge, er hätte einen Dev vor sich, eines dieser fürchterlichen armenischen Schreckgespenster, von denen ihm seine Nany immer erzählt hatte. Er hob seine zerbrechliche Oud, als wäre sie eine Axt, und war bereit, sich zu verteidigen. Der verschwommene Schatten nahm Gestalt an und sprach ihn unter einem zerfetzten Umhang hervor armenisch an: ›Bitte, hast du etwas zu essen für mich?‹
    Der Junge sah im Mondlicht ein Kind vor sich. Es war über und über mit Schorf bedeckt, sein Bauch war aufgedunsen, und es konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Es war ein Mädchen. Seine Zähne saßen nur noch lose im Zahnfleisch, seine Augen waren verquollen, und aufgrund seiner erst vor kurzem gebrochenen Nase konnte es kaum atmen. Er betrachtete ihr Gesicht, das sicher nie besonders schön gewesen war, aber in seinem jetzigen Zustand wahrhaft erschreckend aussah. Er unterhielt sich kurz mit ihr, wobei er herausfand, daß sie dreizehn Jahre alt war, ein ziellos durch die Welt ziehendes Flüchtlingskind, und er mußte an das stolze und vergebliche Ansinnen denken, das er die Nacht zuvor an Gott gestellt hatte. Er mußte lachen und fühlte sich plötzlich stärker. Er konnte nicht aufhören zu lachen, und sein Lachen schenkte ihm neue Kraft. Das verunsicherte das Mädchen, und als er dies merkte, sagte er: ›Der Gott der Armenier hat wirklich Humor. Wie kann man jemandem gegenüber Zweifel haben, der so einen Humor hat wie Er? Du wirst mit mir kommen, mein kleiner Dev.‹
    ›Was wollen Sie von mir, Herr?‹ fragte das Mädchen, inzwischen ernstlich beunruhigt.
    ›Was ich von dir will?‹ antwortete er sanft. ›Sieh dich doch an! Was hast du denn schon anzubieten? Alles ist dir genommen worden, und alles ist dir angetan worden. Was um alles in der Welt könnte ich also noch von dir haben wollen? Kannst du dir nicht denken, was ich von dir will?‹
    ›Nein, Herr.‹
    ›Da ist nur noch eines übrig. Ich will dich lieben. Eine andere Wahl haben wir nicht. Und jetzt komm mit mir. Wir werden unser eigenes Armenien finden.‹
    Sie folgte dem halbverhungerten Jungen mit den wilden Augen. Sie überlebten beide und zogen ans Schwarze Meer, und irgendwie schafften sie es trotz all der Kriegswirren, zu Fuß ganz Europa zu durchqueren, bis sie den Atlantik erreichten. Sie hatten inzwischen Arbeit gefunden und Kinder gezeugt. Und 1927 trafen sie schließlich, zusammen mit ihren fünf Kindern, in New York ein, von wo sie, die schon die halbe Welt durchwandert hatten, der Macht der Gewohnheit folgend, weiter nach Westen zogen, bis sie schließlich zur Pazifikküste kamen. Dort sagte meine Mutter: ›Weiter geht es nicht mehr. Dieser Ozean ist zu gewaltig.‹ Und so ließen sie sich nieder und hatten vier weitere Kinder, einundsechzig Enkel und bis jetzt zehn Urenkel – insgesamt mehr als vierzig, die den Namen Kamian weiterleben lassen, der nicht in diesem Graben in diesem armenischen Dorf starb. Die meisten seiner Söhne und Enkel haben es zu etwas gebracht, und er kommt nach wie vor einmal die Woche hierher, um für die paar Leute, die seine Musik verstehen, auf der Oud zu spielen.«
    Das war also die Lebensgeschichte des alten Kamian, und es gab kein Detail darin, an dem ich gezweifelt hätte. Ich habe nämlich im Lauf der Zeit eine Menge zäher Männer kennengelernt, denen ich Ähnliches zugetraut hätte. Aber etwas verblüffte mich, und ich würde es nie ganz verstehen. Wieso hatte er in jener Nacht dieses Mädchen mitgenommen? Ich meine, er hätte ihr natürlich helfen können. Aber nein, er lieferte sich ihr in jener Nacht mit seinem ganzen Leben aus. Nach all dem, was er bereits durchgemacht hatte, war er noch in der Lage, sich voll und ganz jemandem hinzugeben! Das war das Unglaublichste an Mr. Kamian. Und woher, zum Teufel, wußten seine Finger so genau, wohin sie auf dieser Oud drücken sollten, obwohl sie sich an keinen Griffleisten orientieren konnten?
    »Na, hast du ordentlich reingehauen, Bumper?« erkundigte sich Yasser, als er mit Ahmed an meinen Tisch kam. Ich erwiderte seine Frage mit einem breiten, zufriedenen Grinsen und tätschelte ihm die

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