Der müde Bulle
Tisch ab, und dann leisteten mir noch Ahmed und Yasser für zehn Minuten Gesellschaft.
Es gibt ein arabisches Gebet, das man etwa so übersetzen könnte: ›Gib mir eine gute Verdauung, o Herr, und etwas zum Verdauen.‹ Das war so ziemlich das einzige Gebet, das für meine Begriffe auch einen Sinn hatte. Wenn ich an Gott glauben würde, läge ich sicher nicht auf den Knien herum, um etwas von Ihm zu erbitten oder Ihm faule Versprechungen zu machen. Dieses spezielle arabische Gebet beinhaltete so ziemlich alles, was ich Ihm sagen würde, und so sprach ich es auch jedesmal, bevor ich in Abds Harem aß, obwohl ich nicht an Ihn glaubte. Manchmal sprach ich es sogar bei anderen Anlässen und gelegentlich auch zu Hause.
Als die armenischen Musiker kamen, befand sich zu meiner Freude der alte Mr. Kamian unter ihnen, ein hervorragender Oud -Spieler, der nicht mehr allzu häufig in Abds Harem auftrat. Er wurde von seinen Enkeln Berge und George begleitet, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Alle drei waren groß und hager, und über ihren markanten Hakennasen funkelten herrliche, dunkel geränderte Augenpaare. Berge spielte Violine, und George, mit seinen knapp zwanzig Jahren der Jüngste, schlug die Darbuka- Trommeln. Die beiden jungen Burschen machten ihre Sache zwar gut, aber es war vor allem der alte Kamian, der mich faszinierte, wenn er die Saiten der Oud mit dem Kiel einer Adlerfeder berührte. Die Oud ist ein lautenähnliches Instrument, das im Gegensatz zu einer Gitarre keine Griffleisten hat. Die Finger des alten Mannes wußten jedoch genau, wo sie auf dem Hals des Instruments zu tanzen hatten – und dies mit einer Behendigkeit und Schnelligkeit, daß es kaum zu fassen war. Ich bekam eine Gänsehaut und konnte kaum mehr schlucken, wenn ich die schlanken, hageren Finger des alten Mannes über die zwölf Saiten flitzen sah.
Ich war einmal an einem Nachmittag im Lokal gewesen, als sie gerade mit einer neuen Tänzerin probten, und der alte Kamian hatte Berges Kindern ein paar armenische Märchen erzählt. Ich saß hinter einem Perlenvorhang verborgen und hörte Kamian von den feurigen Pferden Armeniens sprechen, von Granatäpfeln voll von Perlen und Rubinen und von Hazaran-Bulbul, der verzauberten Nachtigall aus tausend Liedern. Als ich ihm so zuhörte, kam ich mir plötzlich selbst wieder wie ein Kind vor, und seitdem glaube ich fast, diese Feuerpferde besteigen zu können, wenn ich ihn die Oud spielen höre.
Bei einer anderen Gelegenheit, als ich noch spät in der Nacht in Abds Harem saß und Mr. Kamians Musik lauschte, leistete mir sein ältester Sohn Leon bei einem Scotch Gesellschaft und erzählte mir die Geschichte seines Vaters. Kamian war der einzige Überlebende einer riesigen Familie, die allein ein halbes Dorf okkupiert hatte und von türkischen Soldaten niedergemetzelt worden war. Er war damals vierzehn Jahre alt gewesen und wurde mit den Leichen seiner Eltern, seiner Brüder und Schwestern und all derer, die für ihn die Welt bedeuteten, in einem großen Graben zurückgelassen.
»Das einzige, was ihn an jenem Tag gerettet hat, war der Geruch des Todes«, erklärte mir Leon, der fünf Sprachen beherrschte und es wie alle Armenier liebte, Geschichten zu erzählen. »Als er also damals in diesem Graben lag, wollte er zusammen mit den anderen sterben. Aber es war nicht der Anblick oder die Angst vor dem Tod, die ihn veranlaßte, aus diesem Graben zu kriechen. Es war vielmehr der Gestank der verwesenden Leichen, der sich schließlich als unerträglich erwies und ihn hinauf auf die Straße und fort von seinem Dorf trieb.
Fast ein Jahr lang wanderte er darauf ziellos umher. Sein einziger Besitz war eine Oud, die er aus einem geplünderten Haus gerettet hatte. Eines Nachts, als er sich völlig allein in der Wildnis zum Schlafen niederlegte – er fühlte sich wie das letzte lebendige Wesen auf Erden –, wurde er sehr zornig, weil Gott all dies zugelassen hatte, und der junge Hitzkopf forderte ein Zeichen von Ihm. Er wartete und lauschte in die Dunkelheit hinaus, aber er hörte nur den Wind über die russische Steppenlandschaft heulen. Und dann fragte er sich, wie er je an Gott hatte glauben können, wenn dieser duldete, daß in Armenien solche Dinge geschahen, dieser letzten christlichen Insel inmitten eines islamischen Ozeans. Und da kein Zeichen kam, schlug er die Oud an und sang die ganze Nacht heldenmütige Lieder in den Nachtwind hinaus.
In der nächsten Nacht wanderte der Junge durch
Weitere Kostenlose Bücher