Der müde Bulle
Harry. Einfach nur ein ganz gemütliches Abendessen.«
»Ein gemütliches Abendessen«, äffte mich Freddie nach. »Ha, ha, ha!«
»Ach, leck mich doch …« Einen Augenblick wurde ich richtig wütend auf Freddie, weil er so albern in sein Bier kicherte. Meine Güte, dachte ich dann, ich werde allmählich auch schon ein bißchen irre.
Das Telefon klingelte, und Harry ging ans andere Ende der Theke, um den Hörer abzunehmen. Es dauerte nicht lange, und er fing zu schimpfen an, worauf mich Freddie ansah und den Kopf schüttelte.
»Mit Harry geht's wirklich rapide abwärts, Bumper.«
»Ich weiß. Aber warum mußt du ihn dann noch immer so auf die Palme bringen?«
»Ich will das doch gar nicht«, entschuldigte sich Freddie. »Aber manchmal kann ich einfach nicht anders. Ab und zu fällt Harry einem ja wirklich ganz schön auf die Nerven. Ich habe übrigens gehört, daß die Ärzte gesagt haben, Flossie könnte jetzt jeden Tag sterben. Es geht ihr wirklich verdammt schlecht.«
Ich mußte daran denken, wie sie vor zehn Jahren gewesen war – eine dicke, robuste alte Dame, die immer zu Späßen aufgelegt war. Sie machte immer so leckere Sandwiches, daß mindestens einmal die Woche mein Abendessen nur daraus bestand.
»Ohne sie wird Harry es bestimmt nicht mehr lange machen«, fuhr Freddie im Flüsterton fort. »Seit sie letztes Jahr ins Krankenhaus gekommen ist, wird er von Tag zu Tag kindischer. Ist dir das denn nicht aufgefallen?«
Ich trank mein Bier aus und dachte: Jetzt wird es aber, verdammt noch mal, höchste Zeit, daß ich hier herauskomme.
»Das passiert nur Leuten wie Harry und mir. Wenn man jemanden liebt und wirklich braucht – vor allem, wenn man alt ist – und wenn man diese Person dann verliert, dann ist das wirklich arg. Das ist wirklich das Schlimmste, was man sich denken kann, wenn plötzlich neben dem Körper auch der Verstand nicht mehr so recht mitmacht. Sieh dir doch Harry und Flossie an! Wenn ich wählen könnte, in wessen Haut ich lieber stecken möchte, für mich wäre das keine Frage. Ich würde lieber mit Flossie tauschen, als so dahinzusiechen wie Harry. Du hast es ja auch gut, Bumper. Du liebst niemanden und bist mit nichts und niemandem verheiratet – außer vielleicht mit deiner Uniform. Dir kann nie was richtig nahegehen.«
»Aber was ist, wenn du zu alt wirst, um deine Arbeit zu machen? Was dann?«
»Daran habe ich noch nie gedacht, Bumper.« Freddie führte das Glas an seine Lippen und verschüttete ein wenig von seinem Inhalt. Er leckte sich einen kleinen Schaumfetzen von den Fingern. »Daran habe ich tatsächlich noch nicht gedacht, aber ich würde sagen, daß du dir deswegen keine Sorgen machen solltest. Du wirst langsam älter und streifst weiter durch die Gegend, und irgendwann kommt so ein Kerl daher und knallt dich über den Haufen. Das mag vielleicht brutal klingen, Bumper – aber was soll's? Sieh dir doch mal diesen armen, alten Irren an.« Er deutete auf Harry, der immer noch ins Telefon schimpfte. »Denkt an nichts anderes als ans Vögeln, und ich meine – womit? Und dann schau mich an! Im Dienst zu sterben, das wäre doch sicher nicht der schlechteste Abgang, oder?«
»Soll ich dir mal sagen, warum ich immer hierherkomme, Freddie? Weil's nirgendwo in ganz Los Angeles so hoch hergeht wie hier. Ja, die Atmosphäre hier ist wirklich enorm aufheiternd, und auch die Gespräche, die hier geführt werden, sind so richtig amüsant und anregend.«
Bevor ich gehen konnte, kam Harry zu uns zurück. »Weißt du, wer das war, Bumper?« Seine Augen wirkten glasig und seine Wangen eingefallen. Er hatte in jungen Jahren Akne gehabt, und nun sah seine fahle Gesichtshaut völlig zerfressen aus.
»Wer hat denn angerufen?« fragte ich seufzend. »Irma?«
»Nein – das Krankenhaus. Ich habe schon meinen letzten Heller ausgegeben, obwohl sie mir sowieso schon einiges erlassen haben, und jetzt wird sie auf eine andere Station verlegt, wo noch eine Million anderer sterbender alter Leute herumliegen. Trotzdem muß ich noch eine ganze Menge blechen. Ich kann dir sagen, wenn Flossie eines Tages stirbt, weiß ich nicht, woher ich das Geld für ihr Begräbnis nehmen soll. Meine Lebensversicherung mußte ich mir sowieso schon auszahlen lassen. Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich Flossie ein anständiges Begräbnis zukommen lassen soll, Bumper?«
Ich wollte gerade etwas sagen, um Harry zu trösten, als ich hörte, wie Freddie zu schluchzen anfing. Und im nächsten Augenblick
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