Der Müllmann
umschlungen, als ob sie sich nie
wieder loslassen wollten.
»Ich muss dafür ausholen«, sagte sie. »Wenn Sie Zucker wollen,
Kindchen, finden Sie ihn in der kleinen Porzellandose«, meinte sie zu Marietta.
»Ich finde, der Tee wird dadurch verdorben, aber jedem sein Geschmack.«
»Danke«, sagte Marietta artig und legte sich Zucker nach. »Sie
wollten gerade erklären, wie es dazu kam.« Sie sah zu Elisabeth und Ana Lena
hin, die nun ebenfalls Frau Kramer mit weiten Augen ansahen.
»Ich komme aus reichem Haus«, fing Frau Kramer an. »Wir hatten ein
Gestüt in Pommern, trugen ein ›von‹ in unserem Namen und waren mit der halben
High Society des Dritten Reichs verbandelt.« Sie nahm einen Schluck und verzog
das Gesicht, als wäre der Tee ihr doch zu bitter gewesen. »Natürlich waren wir
einwandfreie Arier. Es gab einen Jungen im Dorf, der Sohn der Lehrerin dort.
Sie war Witwe, ihr Mann im ersten Weltkrieg gefallen Und sie waren Juden. Ihr
Sohn … Franz«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick zu mir, »und ich waren
beste Freunde und wuchsen zusammen auf. Schließlich … schließlich wurden wir
ein Liebespaar.« Sie seufzte leise und sah durch uns hindurch in die Ferne.
»Mein Vater war über die Verbindung nicht erfreut, er war ein preußischer
Landjunker von altem Schrot und Korn. Er weigerte sich, uns die Zustimmung zur
Hochzeit zu geben … und damals zählte das noch etwas«, meinte sie mit einem
fast scheuen Lächeln. »Aber er war ein guter Mann und konnte Hitler nicht
ausstehen. Allerdings kam man damals auch nicht an ihm vorbei. Als Hitler an
die Macht kam, ahnte mein Vater schon, worauf es hinauslaufen würde. Er sorgte
dafür, dass Franz und seine Mutter rechtzeitig in die Schweiz kamen, bevor der
ganze Spuk losging. Vielleicht hoffte er auch, dass damit die Liaison ein Ende
finden würde. Wir hielten aber Kontakt. Und ab und zu, auch während des
Krieges, besuchte ich Franz in Zürich.«
Ich nickte und erinnerte mich an das alte Foto.
»Ich erfuhr von ihm, was mit den Juden geschah. Irgendwie hatte man
es ahnen, aber nicht glauben können. Und eines Tages, als ich bei Franz zu
Besuch war, besuchte mich ein amerikanischer Gentleman. Er fragte mich, ob ich
einem besonderen Club beitreten würde.«
Sie sah mich an. »Sagt Ihnen ›Oh So Social‹ etwas?«
Ich brauchte einen Moment, bis es klickte. »Sie waren beim OSS?«,
fragte ich ungläubig. Oh So Social bezog sich darauf, dass der Vorläufer des
CIA seine ersten Agenten aus den Reihen gut betuchter und situierter
Dilettanten angeworben hatte.
»Der Vorläufer des CIA«, erklärte ich Marietta, als sie mich fragend
ansah.
»Mein Gott«, sagte Marietta, und Frau Kramer nickte.
»Das trifft es genau«, sagte sie leise. »Es war eine schlimme Zeit.
Aber ich wurde gut ausgebildet … und mir ist nie etwas geschehen. Nur … Franz.
Er ist erwischt worden, als er unter falschem Namen nach Deutschland einreiste.
Und er kam in ein Konzentrationslager. Bis fast dreißig Jahre nach dem Krieg
habe ich gedacht, er wäre tot. Gleiches dachte er auch von mir.« Sie nippte
wieder an ihrem Tee. »Wir haben es so eingerichtet, dass ich angeblich von zu
Hause weggelaufen bin. Ich ging nach Berlin und trat dort als Varieté-Künstlerin
auf, brachte es zu einem gewissen Ruhm. Vor allem brachte ich es in die Betten
einiger wichtiger Leute. Hier …« Sie stand mühsam auf und zog eine Schublade
auf, um ihr eine alte Illustrierte zu entnehmen. »Das bin ich.«
Das Titelbild zeigte eine knapp bekleidete Frau, die in einer Hand
gleich fünf Messer hielt. »Ich sang, ich tanzte, ich spielte Klavier. Und ich
warf scharfe Gegenstände nach gut gekleideten Herren«, lächelte sie.
»Blaublütig, Artistin, leicht zu haben, der perfekte Köder für die ganzen
Herrenmenschen, die durchaus gerne auch etwas Anrüchiges im Bett haben
wollten.«
»Das erklärt das Kunststück mit dem Messer«, sagte ich. »Aber …«
»Das sollte ich besser erzählen«, unterbrach Elisabeth. Ich konnte
mich nicht daran gewöhnen, wie sie aussah. Es waren nicht nur die gefärbten
Haare und die Kontaktlinsen, auch ihr Gesicht war nicht mehr dasselbe.
»Frank holte mich vom Krankenhaus ab. Er sagte, Ana Lena ginge es
nicht gut. Und ich Idiotin habe ihm geglaubt. Wieder einmal. Aber es war nur ein
Vorwand gewesen, um mich erneut dazu zu bringen, zu ihm zurückzukehren. Er
hatte nicht viel Zeit, er wusste, dass du mit Ana Lena zum Krankenhaus gefahren
bist, um mich abzuholen. Er war
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