Der multiple Roman (German Edition)
Übersetzer, durch den multiplen Leser und durch den stummen, multiplen Text, die am Leben sein mögen oder in diesen mörderischen Jahrhunderten vielleicht tot sind, jeder Möglichkeit beraubt, lauthals ihre Rechte zu verteidigen.
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Im Vorwort zu seiner englischen Übersetzung von Michail Lermontows russischem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert,
Ein Held unserer Zeit
, 1958 veröffentlicht, definierte Nabokov die Aufgabe des »ehrlichen Übersetzers«: Zuerst einmal müssten wir uns ein und für allemal von der konventionellen Vorstellung befreien, dass sich eine Übersetzung »flüssig lesen lassen« und »nicht wie eine Übersetzung klingen« sollte. Stattdessen, fand Nabokov, sei »jede Übersetzung, die sich
nicht
wie eine Übersetzung anhört, bei näherer Betrachtung unexakt; während auf der anderen Seite die einzige Tugend einer Übersetzung ihre Treue und Vollständigkeit ist. Ob sie sich flüssig lesen lässt oder nicht hängt vom Modell ab, nicht vom Imitator.« [709] Nabokov schloss seine Erörterung mit einigen Fakten über Lermontows rohe russische Sätze:
Seine Similes und Metaphern sind unheimlich gewöhnlich; seine abgedroschenen Beiworte werden nur dadurch getilgt, dass sie manchmal falsch benutzt werden. Wortwiederholungen in beschreibenden Sätzen irritieren den Puristen. Und all dies sollte der Übersetzer getreulich wiedergeben, egal wie versucht er sein mag, die Verfehlungen auszugleichen und die Überflüssigkeiten zu reduzieren. [710]
Aber diese ernste Beschreibung des Wortwörtlichen war eine neue Erfindung. Es war eine Konsequenz von seinem Umzug nach Amerika oder aber ein Zufall, der zumindest damit in Zusammenhang stand.
In den 1940 er und 1950 er Jahren hatte Nabokov in Amerika eine Reihe von Lehrtätigkeiten angenommen, deren Höhepunkt sein Aufenthalt an der Cornell University war, wo er einen Kurs leitete, der sich mit den Meisterstücken der europäischen Literatur beschäftigte. Schnell begann Nabokov, empfindlich zu werden, was die ihm zur Verfügung stehenden Übersetzungen betraf. Und das bekannteste Beispiel hierfür waren die Fassungen von Puschkins
Eugen Onegin
. Sie bedrückten Nabokov so sehr, dass er sich entschloss, eine eigene englische Fassung von Puschkins Roman anzufertigen. Und so veröffentlichte er 1964 , sechs Jahre nachdem sein Lermontow erschienen war, eine vierbändige Ausgabe: eine Einleitung, eine wortwörtliche Übersetzung, und zwei Kommentarbände – zusammen mit einem Index und einem Faksimile des russischen Textes.
Damit löste er den größten Streit über Übersetzungen aus, den das zwanzigste Jahrhundert erlebt hat.
In seinem »Vorwort« zu dieser Übersetzung stellte Nabokov eine einfach Frage: »Kann Puschkins Gedicht oder überhaupt irgendein Gedicht mit einem festgelegten Reimschema wirklich übersetzt werden?« Er beantwortete diese Frage, indem er behauptete, die Antwort würde automatisch aus einer wahren Definition davon folgen, was eine Übersetzung ausmache. Und so beschrieb er drei Möglichkeiten, ein Gedicht in eine andere Sprache zu übertragen. Die erste war »paraphrastisch«: eine freie Version des Originals. Die zweite war »lexikalisch (oder konstruktiv)«: die Grundbedeutung der Wörter, reproduziert in ihrer originalen Reihenfolge. Und die dritte war die »Wörtliche, die die exakte kontextuelle Bedeutung des Originals so genau wiedergibt, wie es die assoziativen und syntaktischen Möglichkeiten einer anderen Sprache erlauben. Allein dies ist die wahre Übersetzung.« [711] Nun, wandte Nabokov ein, seien wir »in der Lage, unsere Frage genauer zu formulieren: Kann ein gereimtes Gedicht wie Eugen Onegin unter Beibehaltung seiner Reime zuverlässig übersetzt werden? Die Antwort lautet natürlich nein. Die Reime beizubehalten und dabei das gesamte Gedicht wörtlich zu übersetzen, ist mathematisch unmöglich.« Und trotzdem: »Mit seinem Reim verliert das Gedicht seine Blüte, die weder Randbeschreibungen noch die Alchemie eines gelehrten Apparats ersetzen können.« [712]
Puschkins Roman besteht aus Strophen von jeweils vierzehn vierhebigen Zeilen, von denen, wie Nabokov anmerkt, die jeweils ersten zwölf »die größtmögliche Abwechslung bezüglich des Reimschemas aufweisen, die in einem Dreizeiler möglich ist: Kreuzreime, Paarreime, Umarmende Reime«. In diese komplexe Strophenform bettet Puschkin seine romantische Handlung und erschafft so eine Montage zickzackartiger Abschweifungen. Denn in Puschkins Roman geht es
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