Der multiple Roman (German Edition)
russisch- und französischsprachig auf. Sein Name lautete zu diesem Zeitpunkt Vladimir Vladimirovič Nabokov. 1917 , nach Ende der Russischen Revolution, floh er mit seiner Familie nach Berlin. Er lernte nie richtig Deutsch. Zwischen 1926 und 1938 veröffentlichte Nabokov neun Romane auf Russisch, alle unter dem Pseudonym Sirin. 1939 zog er nach Amerika. Zwischen 1941 und 1974 veröffentlichte er acht weitere Romane auf Englisch, zuerst als Vladimir Nabokoff, sogar als Nabokoff-Sirin und schließlich als Vladimir Nabokov.
»Selbst der Begriff ›Exilschriftsteller‹«, schrieb Nabokov 1940 in einer russischen Emigrantenzeitschrift, die in New York erschien, »hört sich nach einer Tautologie an. Jeder wirkliche Schriftsteller findet sein ganz eigenes Exil in seiner Kunst und richtet sich dort ein.« [707] Fünfundzwanzig Jahre später, 1966 , sollte er die folgende Position der Nicht-Zuordnung entwickeln:
Ich habe immer, schon als Schuljunge in Rußland, die Meinung vertreten, daß die Nationalität eines Schriftstellers, der das Lesen lohnt, von zweitrangiger Bedeutung ist. Je charakteristischer das Aussehen eines Insekts, desto weniger wird der Taxonom geneigt sein, als erstes auf die Angabe des Fundortes unter dem aufgesteckten Exemplar zu schauen, um zu entscheiden, welcher von einigen nur ungefähr beschriebenen Rassen es zugeordnet werden sollte. [708]
Ich stimme natürlich mit ihm überein. Aber diese Theorie muss trotzdem noch mit Fakten angereichert werden.
Zwischen 1936 und 1971 übersetzte Nabokov – zumeist in Zusammenarbeit mit anderen – alle neun seiner russischen Romane ins Englische. Ein Erinnerungsband,
Conclusive Evidence
, wurde erstmals 1951 auf Englisch veröffentlicht. Nabokov übersetzte diese Erinnerungen 1954 ins Russische und gab ihnen den Titel
Drugie berega
–
Other Shores
. Er übertrug diese Übersetzung dann zurück ins Englische mit vielen Ergänzungen und Überarbeitungen, woraus letztendlich das 1966 veröffentlichte Buch
Speak, Memory
wurde. Und eines der Kapitel dieser Memoiren, »Mademoiselle O«, hatte Nabokov ursprünglich auf Französisch geschrieben, vor den nachfolgenden Fassungen auf Englisch und Russisch.
Nabokov übersetzte auch die Werke anderer Schriftsteller: 1922 veröffentlichte er
Nikolka Persik
, eine russische Fassung von Romain Rollands französischem Roman
Colas Breugnon
; und 1923 übersetzte er Lewis Carrolls
Alice im Wunderland
. Er übersetzte französische Gedichte von Alfred de Musset und Rimbaud ins Russische; russische Gedichte von Puschkin ins Französische; und 1944 übersetzte er Gedichte von Puschkin, Lermontow und Tjuttschew ins Englische. Seine englische Übersetzung von Lermontows Roman
Ein Held unserer Zeit
wurde 1958 veröffentlicht; seine englische Übersetzung des
Igorlieds
, einem russischen Epos aus dem zwölften Jahrhundert, erschien 1960 . Und seine Ausgabe von Puschkins Versroman,
Eugen Onegin
, erschien 1964 .
Die Geschichte von Nabokovs Übersetzungen ist also dreischichtig: Zuerst waren da die Übersetzungen seiner russischen Romane ins Englische (und eines englischen Romans,
Lolita
, ins Russische); dann Übersetzungen anderer russischer Schriftsteller ins Englische; und schließlich die Übersetzung seiner Erinnerungen aus dem Französischen ins Englische, ins Russische und zurück ins Englische. Was aber seine Technik betrifft, so durchliefen diese Übersetzungsschübe zwei abgegrenzte Phasen: Seine frühen Übersetzungen anderer Russen waren freie, formale Übersetzungen; aber dann ging er in seinen Übersetzungen von Romanen Lermontows und Puschkins, wobei letztere bekannter sind, über zu einer streng wortwörtlichen Theorie und Praxis. Aber gleichzeitig war für seine späteren Übersetzungen seiner eigenen Werke genau jene lose, formale Äquivalenz charakteristisch, für die er die Übersetzungen anderer kritisierte.
Nur der Stil zählt, argumentierte Nabokov: Aber in der Übersetzung muss ein Stil eine Vielzahl komplizierter Manöver überstehen. Er muss in drei verschiedenen Zeitzonen gleichzeitig leben. Und er muss mit ethischen Problemen zurechtkommen. Denn was würde es überhaupt bedeuten – eine perfekte Kopie anzufertigen? Welche Faktoren bestimmen, ab welchem Punkt eine Übersetzung zu frei ist, um noch akkurat zu sein? Diese Fragen machen den Anschein, ästhetischer Natur zu sein, aber eigentlich sind sie ethisch. Und alle werden sie durch ein ungleiches Dreieck bestimmt, durch den multiplizierenden
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