Der multiple Roman (German Edition)
fortdauerten, in der so etwas wie Miras Tod möglich war«. [770]
Es ist dieser Zeilenumbruch – wie er zwei Welten trennt, zwei Zeitrahmen –, der so besonders bewegend ist. Er steht gleichzeitig für die Verleugnung von Zeit und auch für die resignierte Anerkennung ihrer Allgegenwärtigkeit. Genauso ist es, als Pnin sich in einem Park befindet, nachdem er auf dem Weg nach Cremona aus dem falschen Bus ausgestiegen ist, und sich, während er die Bäume und das Blattwerk betrachtet, in sein Kinderzimmer zurückversetzt fühlt, wo er fieberhaft die Tapete anstarrte, mit ihrem Blätter- und Zweigmuster. Denn Nabokovs Form in
Pnin
zufolge ist es weniger schmerzhaft, sich im falschen Zug zu befinden, als jener zu gedenken, die im Holocaust umgekommen sind – aber trotzdem teilen beide Szenen einen genetischen Marker: Beide Male zieht sich Pnin in seine Erinnerungen zurück. Beide Male gleitet Pnin mit jedem Satz tiefer zurück in seine eigene Vergangenheit, ohne den Leser aber klar darauf hinzuweisen. So dass, als er sich schließlich triumphierend erhebt, um in Cremona seine Vorlesung zu halten, »[e]rmordet, vergessen, ungerächt, unverdorben, unsterblich, … viele alte Freunde und Bekannte unter weniger weit zurückliegenden Leuten im dämmrigen Saal verteilt« zu sein scheinen: unter anderen »Dr. Pawel Pnin und seine besorgte Frau, beide ein wenig verschwommen, doch im Großen und Ganzen aus ihrer dunklen Auflösung wunderbar auferstanden«. [771]
Ständig, andauernd kollidiert Pnin mit den unkünstlerischen Misserfolgen der Welt. Amerika ist nicht sicherer als Europa. Denn Pnin ist auch ein Überlebender – aber ein Überlebender aus Sankt Petersburg, nicht aus Warschau. So, wie jeder mit den Fehlern seines eigenen Leben leben muss. Man hat keine Wahl.
7
In der Endfassung des Textes, in
Erinnerung, sprich
, hält Nabokov genau in jenem Moment inne, als er sich vorstellt, wie Mademoiselle O den Bahnhof in Russland verlässt:
Sehr schön und sehr einsam. Doch was tue ich in jenem stereoskopischen Traumland? Wie bin ich dorthin gelangt? Irgendwie sind die beiden Schlitten davongeglitten und haben auf der blauweißen Straße einen paßlosen Spion in neuenglischen Schneestiefeln und Wettermantel zurückgelassen. Das Klingen in meinen Ohren sind nicht mehr ihre sich entfernenden Glocken, es ist nun mehr mein altes summendes Blut. Alles ist still, gebannt, vom Mond verzaubert, dem Rückspiegel der Einbildungskraft. Der Schnee jedoch ist richtiger Schnee, und wenn ich mich bücke und eine Handvoll zusammenraffe, zerbröseln sechzig Jahre zwischen meinen Fingern zu glänzendem Froststaub. [772]
Dies ist einer der bewegendsten Absätze in Nabokovs gesamtem Werk – wie er sich hinabbeugt, um etwas wirklichen und erinnerten Schnee aufzuheben –, denn er entstammt der Eindringlichkeit seiner Erinnerungen. Und außerdem ist er so sinnbildlich für Nabokovs Stil. Unabhängig davon, in welcher Sprache er gerade schrieb, genoss Nabokov die Tatsache, dass ein Autor genau bestimmen kann, welche Informationen seine Sätze enthalten sollen. Dies bedeutet auch, dass nichts einfacher ist, als den Leser irrezuführen, ihn kurzzeitig in eine Landschaft zu verfrachten, die von einem Moment zum anderen irrational und unerklärlich wird. (Wie auch Laurence Sterne damit angab, dass »mein Leser bislang noch nie imstande gewesen ist, etwas im voraus zu erraten … wofern ich dächte, Ihr wäret imstande, von alleine zum geringsten Urteil oder zu einer wahrscheinlichen Mutmaßung darüber zu gelangen, was auf dem nächsten Blatte stehen könnte, – ich’s sogleich aus meinem Buche risse.« [773] )
Im Juli 1910 ging der junge Vladimir Nabokov beispielsweise in den Marschländern um den Oredezh auf Schmetterlingsjagd:
Unter all den Gerüchen des Sumpfes bemerkte ich an meinen Fingern den feinen Duft von Schmetterlingsflügeln, einen von Art zu Art verschiedenen Duft – Vanille oder Zitrone oder Moschus oder einen modrigen, süßlichen Geruch, der schwer zu definieren ist. Immer noch nicht befriedigt, drängte ich weiter. Endlich sah ich, daß ich das Ende des Sumpflandes erreicht hatte. Das ansteigende Gelände dahinter war ein Paradies von Lupinen, Akelei und Bartfaden. In der Ferne fleckten ziehende Wolkenschatten das stumpfe Grün der Hänge über der Baumgrenze und das Grau und Weiß von Longs Peak.
Ich gestehe, ich glaube nicht an die Zeit. Es macht mir Vergnügen, meinen Zauberteppich nach dem Gebrauch so
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