Der multiple Roman (German Edition)
Memory (Erinnerung, sprich)
: »Mademoiselle O« wurde als fünftes Kapitel veröffentlicht – in dem Nabokov im Prinzip wieder zu der englischen Fassung von 1951 zurückgekehrt war, mit einigen wenigen Überarbeitungen. Allerdings ist wieder das Ende anders: An die letzten Zeilen der Fassung von 1951 schloss Nabokov noch einen zusätzlichen Schlussabsatz an, einen rein faktisch gehaltenen Absatz, in dem er detailliert »andere erstaunliche Langlebigkeiten« bei Gouvernanten aufführt:
Fünfundsechzig Jahre später entdeckte meine Schwester Elena in Genf Mme Conrad, die sich in der zehnten Dekade ihres Lebens befand. Die greise Dame übersprang eine Generation und hielt Elena naiverweise für unsere Mutter, damals ein achtzehnjähriges Mädchen, das mit Mlle Golay von Wyra nach Batovo herübergefahren kam – in jener fernen Zeit, deren Licht so viele ingeniöse Weisen findet, mich zu erreichen. [748]
Das Thema war immer noch das Gleiche. Auch wenn die Vergangenheit ausradiert worden war, überlebte trotzdem etwas. In seinem finalen Wortlaut ging es in diesem Text immer noch um die Suche nach einer anderen Welt, einer neuen Welt außerhalb der Zeit.
5
Als er in einer seiner Vorlesungen Charles Dickens gegen den Vorwurf der Sentimentalität verteidigte, legte Nabokov seinen Studenten nahe, zwischen Gefühl und Gefühlsduselei zu unterscheiden. »Ich möchte Ihnen unterbreiten, dass jene Menschen, die abschätzig von Gefühlsduselei reden, sich nicht darüber im Klaren sind, was wirkliches Gefühl ist.« [755] Und dies war eine wichtige Unterscheidung für Nabokov: zwischen dem lebendigen Gefühl und dem ausrangierten Gefühl. Sein Stil mit seiner barschen Eleganz und seiner grimmigen Nostalgie beruht auf einer oft überwältigenden Empfindlichkeit gegenüber dem Schmerz. Sein Stil ist so von Gefühlen abhängig, dass er gleichzeitig alles Gefühlsduselige anprangert. Er hat keine Wahl. (Genauso, wie der argentinische Schriftsteller Roger Pla einmal schrieb, Gombrowicz kämpfe gegen sich selbst: »Im Herzen, da bin ich sicher, war er ein Mann der Gefühle, der sich niemals einen Rückfall ins Sentimentale erlaubte.« [756] ) Nabokovs Stil ersetzt das Gefühlsduselige mit dem Pathos endloser und komischer Fehler.
Einmal schrieb Nabokov in seinem Tagebuch eine zufällige Zeitungsnotiz auf:
Nach Ablegung einer Französischprüfung an der Northwestern University beging gestern Axel Abrahamson, ein depressiv veranlagter 2 -plus-Student, in seiner Wohnung (die er mit seiner Mutter teilte) in Evanston, Ill. mit einer tödlichen Dosis Zyankali Selbstmord. Als Antwort auf die letzte Prüfungsfrage schrieb er auf Französisch: »Ich gehe zu Gott. Das Leben kann mir nicht viel bieten.«
Im nächsten Abschnitt übernahm bereits der Schriftsteller in Nabokov. Er wollte aus diesem Artikel eine Erzählung machen: Und seine erste Änderung bestand darin, einen Rechtschreibfehler einzubauen. »Ihn übernehmen. Sehe die Geschichte ganz deutlich vor mir. In Zusammenhang bringen mit Notizen vom 26 . Januar … Ihn einen erbärmlichen Fehler in seinem letzten Satz machen lassen.« [757]
Dies mag den zart besaiteten Leser beunruhigen. Der zart besaitete Leser mag durchaus verwirrt sein, wenn er sich daran erinnert, dass es schließlich Nabokov gewesen war, der den Humor in
Don Quijote
zu brutal fand, zu barbarisch. In diesem Kontext mag einem Nabokovs Ergänzung ein klein wenig heuchlerisch vorkommen. Sie mag einem nicht weniger brutal und barbarisch vorkommen. Aber Nabokov glaubte an andere Welten und an die Vergänglichkeit dieser Welt: Und aus diesem Grund lassen sich einige Elemente seines Stils nicht mit Kategorien der Grausamkeit erklären, sondern nur mit Pathos.
Denn Rechtschreibfehler waren ein Nebenmotiv für Nabokov. In
Pnin
setzt sich Pnin hin, nachdem ihm gesagt worden ist, dass seine Stelle an der Universität neu besetzt werden soll und entscheidet sich, einen Brief zu schreiben: »›Lieber Hagen‹, schrieb er mit seiner klaren, festen Handschrift, ›gestatten Sie mir, unsere Unterhaltung von heute abend zu rekaputilieren [ausgestrichen] rekapitulieren.‹« [758] Und diese Streichung verbindet den Rechtschreibfehler mit einer anderen Stelle in Nabokovs Werk, in
Lolita
, als Lolita aus dem Feriencamp an Humbert und Charlotte Humbert, née Haze schreibt: »
hoffe Euch geht’s gut. Vielen Dank für das Konfekt. Ich
[ausgestrichen und wieder hingeschrieben]
Ich hab meinen neuen Pullover im Wald verloren.
«
Weitere Kostenlose Bücher