Der multiple Roman (German Edition)
Amerika nachdenkt, mag man sich an seinen früheren Avatar, Kafkas Karl Roßmann, erinnert fühlen. Als dieser von seinem Schiff aus auf New York blickte, blickte er auf eine Stadt, die zurückblickte, »mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer«. [764] Während Nabokov in
Pnin
beschreibt, wie »sich schließlich die große Statue aus dem Morgendunst erhob, wo blasse, gebannte Gebäude bereitstanden, von der Sonne entzündet zu werden, wie jene geheimnisvollen Rechtecke in den Balkengraphiken von Prozentvergleichen (Bodenschätze, die Häufigkeit von Luftspiegelungen in verschiedenen Wüsten)«. [765] Es ist eine Metapher, die von Saul Steinbergs metaphorischen Bildern inspiriert sein könnte, in denen er einen Wolkenkratzer aus einem Stück Millimeterpapier zaubert, einfach indem durch sein Gekritzel hier eine Antenne auf seinem Dach oder da eine Markise über seiner Tür entsteht. Es ist nicht wirklich wichtig. Die gleiche Sache ist, wie Borges schrieb, nie die gleiche Sache: Ein kafkaesker Wolkenkratzer unterscheidet sich von seinem Nabokov’schen Zwilling. Aber diese Angelegenheit bewegt mich trotzdem so, weil sie das Beispiel einer Technik ist, die Nabokov für seine neue Marke des Englischen in Anlehnung an Nikolai Gogols Russisch entwickelte: was Pnin selbst den »Ausschweifenden Vergleich« nennt – Gogols Fähigkeit, eine neue Welt durch das Überdehnen eines Simile zu erschaffen. In Nabokovs eigenem Stil bekommt diese Technik aber eine besondere Eindringlichkeit. Dort, in den überdehnten Similes, lauert wieder die Thematik des Schmerzes. Denn die Bedeutung, die Amerika in
Pnin
einnimmt, ist die eines Ortes, der immer noch Russland ist. Es gibt keinen Ort, wohin Pnin sonst gehen könnte. Er kann Russland nicht hinter sich lassen. [67]
Ein Hauch dieses hartnäckigen Schmerzes findet sich in den Trugbildern der New Yorker Wolkenkratzer. Aber eigentlich ist die Trauer allgegenwärtig. Und sie kommt in den Similes zum Vorschein.
In den acht Jahren, die Pnin am Waindell College gelehrt hatte, hatte er – aus dem oder jenem zumeist akustischen Grund – sein Logis fast jedes Semester gewechselt. In seiner Erinnerung ähnelte die Akkumulierung aufeinanderfolgender Zimmer jetzt jenen zu Gruppen angeordneten Lehnstühlen, Betten, Lampen und Kaminecken, die unter Nichtbeachtung aller Raum- und Zeitunterschiede miteinander auskommen müssen, im dezenten Licht eines Möbelgeschäfts, um das herum es schneit und die Dämmerung sinkt und keiner den anderen wirklich liebt. [766]
Nabokov beschrieb sich einmal als Autor von »klaren, aber sonderbar irreführenden Sätze[n]«. [767] Und da er hier tatsächlich den Schriftsteller Sirin beschrieb, Nabokovs frühes Pseudonym, ohne zu erklären, wer dieser Sirin war, kann dies als weiteres Beispiel dafür dienen, dass es sein Stil darauf anlegt, in die Irre zu führen. Aber in
Pnin
, denke ich, zeigt sich die Klarheit des in die Irre Führens nicht nur in den Sätzen, sondern auch in den Absätzen, in der Struktur als Ganzem.
Im Sommer 1953 hält sich Pnin für eine Weile im Landhaus seines amerikanischen Freundes Al Cook auf, der auch unter dem Namen Alexander Petrowitsch Kukolnikov bekannt ist. Irgendwann erinnert ihn ein weiterer Gast – Madame Schpoljanski – an ein Mädchen namens Mira, die Pnin in Russland gekannt hatte. Mira wurde im Konzentrationslager ermordet. Ihre Unterhaltung wird unterbrochen, als sie zum Tee gerufen werden. »Pnin sagte zu Madame Schpoljanskij, er würde in einer Minute nachkommen, und nachdem sie gegangen war, blieb er in der sinkenden Dämmerung des Waldes sitzen, die Hände um den Krocketschläger verschränkt, den er noch immer hielt«. [768] Dann beginnt Nabokov einen neuen Absatz: »Gemütlich brannten zwei Petroleumlampen auf der Veranda des Landhauses. Dr. Pawel Antonowitsch Pnin, Timofeys Vater, ein Augenarzt, und Dr. Jakow Grigorijewitsch Bjelotschkin, Miras Vater, ein Kinderarzt, ließen sich von ihrem Schachspiel in einer Ecke der Veranda nicht losreißen, so daß Madame Bjelotschkin ihnen von der Haushälterin dort […] servieren ließ …« [769] Ja, angetrieben durch den Zeilenumbruch war Pnin in der Zeit zurückgereist, zu seinen Erinnerungen von Mira – von der ihn der Bürgerkrieg von 1918 getrennt hatte und die in Buchenwald gestorben war – eine Erinnerung, die Pnin zu vergessen versucht hatte, weil man »vom Gewissen und also auch vom Bewußtsein nicht erwarten konnte, daß sie in einer Welt
Weitere Kostenlose Bücher