Der multiple Roman (German Edition)
einem Interview von 1962 redet Nabokov über seine »private Tragödie« – dass er seine natürliche Sprache ablegen musste, seine natürliche Ausdrucksweise, seine »reiche, unendlich reiche, unendlich gefügige russische Sprache, um sie gegen eine zweitklassige Sorte Englisch einzutauschen«. [777] Die Tricks des von ihm geerbten Englisch konnten ihn nie so recht überzeugen. Im Exil gab er sich dem Glauben an das perfekte Russisch hin, das er nicht mehr länger benutzen konnte. Aber als Nabokov fünf Jahre später seine Übersetzung von
Lolita
ins Russische beendete, schrieb er ein trauriges, ehrliches Nachwort: »Mich jedoch quält heute nur das Klirren meiner rostigen russischen Saiten. Die Geschichte dieser Übersetzung ist die Geschichte einer Enttäuschung. Ach, jene ›reiche russische Sprache‹, die immer noch irgendwo auf mich zu warten schien, die als wahrer Frühling hinter fest verschlossenen Türen blühte, deren Schlüssel ich so viele Jahre lang aufbewahrt hatte, erwies sich für mich als nicht existent. Hinter diesen Türen gibt es nichts als verkohlte Baumstümpfe und eine herbstliche Ferne voller Hoffnungslosigkeit, und der Schlüssel in meiner Hand ist eher einem Dietrich ähnlich.« [778]
Und ich musste mich ungewollt an dieses plötzliche Zugeständnis erinnern, als ich über Nabokovs Behauptung nachdachte, dass sich jeder wirkliche Autor in seine Kunst zurückzieht und dort verweilt. Oder, als ich mich an dieses stockende, schmerzhaft entblößte Gedicht erinnerte, das die Schriftstellerin Nina Berberova in ihren Erinnerungen über Nabokov zitiert und das sie auf 1951 datierte:
Als ich im Nebel das sah,
Was ich aufbewahrt hatte,
So lange …
Jetzt stelle ich mir das Gezwitscher vor
und den Bahnhof,
Und dann noch
All die Details.
Mich zieht es nach Hause,
Ich möchte nach Hause zurück.
Ich habe genug … Darf ich nach Hause? [779]
Außerdem erinnere ich mich daran, wie Nabokov 1975 ein Interview im französischen Fernsehen gab, in dem er schlichtweg behauptete, er habe sich schon immer im Exil befunden; das Exil sei für ihn ein Dauerzustand, ein Beruf:
Je suis dépaysé partout et toujours. C’est mon état. C’est mon emploi. C’est ma vie
– »Ich bin fremd, überall und immer. Es ist mein Zustand. Es ist mein Beruf. Es ist mein Leben.« Und dann machte er eine kurze Pause:
»Voilà.«
[780]
All dies bewegt mich sehr. All dies zeigt, dass es sich bei Nabokovs künstlerischer Haltung der Nichtanpassung – bewundernswert und wahr, wie sie ist – gleichzeitig um eine Haltung handelte, die von Schmerzen durchwachsen war.
Aber ich sollte nicht zu schwärmerisch sein.
Nabokov erzählt die Geschichte des Exils in seinem komischen Roman
Pnin
. Jede Episode oder jedes Kapitel von
Pnin
beschreibt eine Erniedrigung, eine Enttäuschung, eine Traurigkeit. Die Struktur des Romans ist trickfilmartig: Sie ist wie Tom und Jerry. Pnins Misserfolge sind lustig. So erweckt
Pnin
– der Roman über Pnin – den Anschein einer Farce. In der Tat teilt der Erzähler, der nicht Nabokov ist, dem Leser sogar mit, dieser Roman sei eine Farce. Die Literaturtheorie des Erzählers fasst dieser so zusammen: »Unglück ist das Normale. Das Verhängnis sollte nicht klemmen.« [781] Aber letztendlich ist
Pnin
eigentlich keine wirklich Farce. Denn der wahre Inspizient des Romans ist Nabokov. Mein Lieblingsmoment in
Pnin
ist jener, als Pnin nach einer Party abwäscht. Liebevoll stellt er eine grünblaue Schale ins Wasser. Die Schale ist ein Geschenk von seinem jungen Sohn. Es ist der kostbarste Gegenstand, den Pnin besitzt. Dann hört er vom Abwaschbecken das Geräusch zerbrechenden Glases. Und zuerst findet man das fast lustig. Wieder eines von Pnins Missgeschicken! Aber man weiß gleichzeitig natürlich, dass es überhaupt nicht lustig ist. Denn Pnin ist nicht nur komisch: Er ist auch großherzig und liebenswert. Aber dann geschieht etwas Wunderbares: »Dann ging er mit einem Seufzer gequälter Vorahnung zum Spülbecken zurück, faßte sich ein Herz und langte mit der Hand tief in den Schaum. Ein Glassplitter stach ihn. Vorsichtig holte er ein zerbrochenes Kelchglas heraus. Die schöne Glasschale war unversehrt. Er nahm ein frisches Geschirrtuch und fuhr in seiner Hausarbeit fort.« [782] Nabokov verweigert sich dem Muster der Farce, unter anderem, indem er sich weigert, Pnin seine geliebte Schale zerbrechen zu lassen. Denn Nabokov verstand, dass eine Komödie, um authentisch zu sein, nicht
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