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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Nuit. [52]
    Man muss weder Französisch oder Englisch sprechen können, um zu hören was hier passiert ist. (»Tellmetale of stem or stone. Beside the rivering waters of, hitherandthithering waters of.« / »Contemoiconte soit tronc ou pierre. Tant riviérantes ondes de, courtecourantes ondes de«!) Gelegentlich müssen sich der Sinn und seine Konnotationen ändern, aber nur so, dass der Rhythmus der Wörter, die Musik der Sätze, erhalten bleibt. Denn Stil, selbst der eines solchen polyglotten Durcheinanders von Sätzen, ist international.
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    Und wenn dies schon im Fall von so kleinen Spracheinheiten so ist, dann wird die Übertragung eines Stils – proportional zur Größe der Einheiten – immer einfacher! Denn ein Roman ist ein viel zerklüfteteres Zeichen als ein Wort oder ein Satz. Ja, ein Zeichen, das aus vielen tausenden Zeichen zusammengesetzt ist, wirkt auf noch unausgeglichenere Weise als ein einfaches Zeichen. Seine Form und sein Inhalt sind in der Tat schwer voneinander zu trennen: Sie sind jeweils eine Funktion des anderen – manchmal, gelegentlich. Es mag sich plausibel anhören, dass man einen Roman, wie auch ein Zeichen, in oberflächliche Form und tiefergehenden Inhalt einteilen können sollte, aber das stimmt schon deswegen nicht, weil man Form und Inhalt so wenig trennen kann wie den Signifikanten und das Signifikat eines Wortes. Sie überholen sich ständig gegenseitig.
    In einer von Vladimir Nabokovs Vorlesungen an der Cornell University – einer Vorlesung, die er auf dem Schiff von Amerika nach Europa schrieb – gab Nabokov seinen Literaturstudenten eine hilfreiche Formel: »Form (Struktur und Stil) = Stoff: das Warum und das Wie = das Was.« [53] Aber obwohl ich diese Umkehrung der gewöhnlichen Denkweise liebe, denke ich trotzdem, dass dies möglicherweise immer noch nicht präzise genug ist –, auch wenn es so mathematisch anmutend auf Nabokovs geschriebener Tafel stand. All diese Wörter – Form, Struktur, Stil, Stoff – teilen Aspekte ihrer Identität miteinander; alle sind gegenseitige Annäherungen! Und aus diesem Grund denke ich, dass Nabokovs Gleichung ausbaufähig ist.
    Deshalb ziehe ich eine andere Definition dessen vor, was ein literarisches Objekt ausmacht, die von einem russischen Dichter vorgeschlagen wurde, den Nabokov sehr schätzte: Ossip Mandelstam. 1933 , ein Jahr bevor Nabokov in Amerika ankam, machte Mandelstam Ferien auf der Krim in Koktebel. Er schrieb einen Text mit dem Titel »Gespräch über Dante«, in dem er versuchte, Dantes
Göttliche Komödie
zu beschreiben (»in einen Kraftstrom eintauchen, welcher einmal als Ganzes Komposition heißt, dann im Partiellen Metapher, dann wieder im Flexiblen Vergleich …« [54] ). Mit der alten Vorstellung von Form und Inhalt konnte er nichts anfangen:
    Er [Dante] selbst sagt:
    »Ich könnte aus meiner Konzeption, aus meiner Vorstellung den Saft herauspressen«, das heißt, die Form stellt sich ihm als etwas Ausgepreßtes und nicht als Hülle dar.
    So wird die Form, mag es auch noch so seltsam erscheinen, aus dem Inhalt bzw. der Konzeption herausgepreßt, die sie gleichsam umhüllen. So ist Dantes Gedanke. [55]
    Und mit einer solchen Saftpressen-Definition an der Hand quetschte er diesen Kommentar über das Schreiben als reine Aufführung hervor: Es »besitzt keine Form, ebenso wie sie ohne Inhalt ist, aus dem einfachen Grunde, weil sie nur in der Ausführung existiert«. [56] Oder, mit anderen Worten: »Wenn man von Dante spricht, sollte man richtiger auf die Leidenschaftsbildung achten und nicht auf die Formbildung, …« [57] [13]
    Obwohl dieser Text den Titel Gespräch hat, gibt es sonst niemanden, der an der Unterhaltung teilnimmt: Da ist nur Ossip Mandelstam. Wenn dies also wirklich eine Unterhaltung sein soll, dann nehme ich an, dass der Text nur eine Hälfte der Konversation darstellt: einen Monolog, der für jemanden außerhalb des Textes gedacht ist. Und wenn diese Annahme stimmt, dann frage ich mich, ob dieser unsichtbare Empfänger nicht der russische Schriftsteller Andrei Bely sein könnte. Denn Bely war 1933 mit Mandelstam in Koktebel. Nadeschda zufolge, Mandelstams Ehefrau, redete er mit Bely während ihrer Spaziergänge über seinen Dantetext. Mit Bely im Hinterkopf frage ich mich, ob das eigentliche Thema dieses Gesprächs in Wirklichkeit vielleicht gar nicht die
Göttliche Komödie
ist, sondern der ideale Roman: eine Struktur, die auf dem Prinzip der »Wendbarkeit oder Wandelbarkeit«

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