Der multiple Roman (German Edition)
Begierden stecken schon in allem – in den Theorien von den Nasen und Namen, im Nachspielen von Schlachten.
Sternes Text hat den Anschein, als befinde er sich in einer Art Delirium. Als Vergleich fallen mir nur viel spätere, ebenso experimentelle Schreibformen ein – zum Beispiel die von Gherasim Luca, einem surrealistischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, der rumänisch und jüdisch war und genau deshalb auf Französisch schrieb, weil es nicht seine »Muttersprache« war. Lucas Vorhaben war es, eine völlig »nicht-ödipale Beschäftigung« [251] zu erfinden, die in einem Französisch vermittelt wurde, das stotterte, und sich dem Spiel, wie er es nannte, von Mama und Papa (und von Nationen) entzog: allen Identifikationsmodellen der Zugehörigkeit. Luca tat dies, indem er die Sprache wechselte. Um seine ganz eigene, persönliche Sprache zu erfinden, die auf fremdartigen Wortspielen basierte. Während Sterne, der ebenso skeptisch war, was die Sinnhaftigkeit von Originalitätsansprüchen anging, sich selbst erfand, indem er seinen ganz eigenen Dialekt schuf. Eine Prosa, die so improvisiert ist, so angenehm, und gleichzeitig so absichtlich vermint mit Fallen und Tricks. Wo vorwärts und rückwärts das Gleiche ist.
10
Autoren haben unkonventionelle Vorstellungen von der Zeit. Nur in fiktionalen Texten kann schließlich jemand begraben werden und dann wieder erscheinen: So wird von Onkel Tobys Beerdigung verfrüht in Band VI des Romans berichtet. Denn Sternes Roman schafft eine seltsame Art von Stau, durch den sich die normalen Verhältnisse zeitlicher Abfolgen ändern. Deshalb möchte ich eine Möglichkeit finden, wie ich diese Hommage an Sternes wunderbare Ergebnislosigkeit selbst zu einem Ergebnis bringen kann. Die einzige Möglichkeit, um dies zu erreichen, liegt darin, sein System der Abschweifungen zu durchschauen.
Weil es so etwas wie Abschweifungen letztendlich gar nicht geben kann, wenn Zeit nicht existiert. In seinen Aufzeichnungen über den Humor und die Unendlichkeit machte Coleridge eine wunderbar paradoxe Bemerkung über Sterne: »Jedes einzelne Stück ist nach Maßgabe des Humors ein Ganzes in sich. Deshalb ist die Abschweifung kein Mutwillen, sondern die
eigentliche Form
seiner Kunst.« [252] Der Unendlichkeit ausgesetzt, werden das Abschweifen und der Fortschritt zu ein und derselben Sache. Oder wie Tristram angeberisch sagt: Sein »Meisterstreich digressiven Geschicks« liegt darin, dass er, obwohl er »so weit und so oft abschweife als nur irgendein Schriftsteller in
Groß-Britannien
; ich dennoch stets Sorge trage, die Sache so einzurichten, daß mein Hauptgeschäft in meiner Abwesenheit nicht stillesteht.« »Mit einem Wort«, ergänzt er »mein Werk ist digressiv und doch ist es auch progressiv, – und das zu gleicher Zeit.« [253]
Es ist seine Entdeckung dieser Form, die ganz frei von den herkömmlichen Gesetzen daher kommt, die Sterne zu solch einem fruchtbaren Erneuerer der Romankunst machte. [35] Sterne war sich dessen natürlich bewusst. Er war stolz auf seine avantgardistischen Erfindungen. Und so entscheidet sich Tristram in der Mitte des Romans, im sechsten Band, eine Skizze der Erzählungslinie seines Buches mit dem Leser zu teilen:
Ich komme allmählich ordentlich in mein Werk hinein; und mit Hilfe einer vegetabilischen Diät und mancherlei kühlender Samentränklein steht es mir sonder Zweifel, daß ich befähigt sein werde, die Geschichte meines Onkels Toby, sowie meine eigene, in einer ziemlich geraden Linie fortzusetzen. So,
Dies waren die vier Linien, auf denen ich mich in meinem ersten, zweiten, dritten und vierten Band fortbewegt habe. – Im fünften Band war ich sehr brav, – die genaue Linie, so ich darin beschrieben, ist diese: [254]
Diese Diagramme waren ein neuer Aspekt von Sternes Verspieltheit. Sie wiesen auf die musikalischen Innovationen der Form in diesem Roman hin. (Denn was ist das da am Ende der letzten Linie, wenn es kein Violinschlüssel ist?) Sie waren seine ganz persönliche Hommage an seine eigene abschweifende Form. Ein herkömmlicher Leser könnte meinen, bei diesen Diagrammen handle es sich um Sternes freimütiges Geständnis, dass sein Roman formlos sei, ein Schnörkel – während sie tatsächlich ein Witz auf Kosten eines solchen geistlosen Lesers sind: eines Lesers jener Sorte, der Form mit Linearität verwechselt. Die Diagramme sind da, um klar zu machen, dass Sternes Vorstellung von Form etwas völlig Eigenes war: Für ihn
Weitere Kostenlose Bücher