Der multiple Roman (German Edition)
Aber die Handlung ist natürlich nur ein Vorwand: Eigentlich geht es in dem Roman um Wahrheiten. Um das wirkliche Leben. Es geht um die endlosen Freuden der Selbstkritik.
Oder, mit anderen Worten, Brás Cubas ist eine Überarbeitung von Tristram Shandy.
Denn Tristram und Brás ähneln sich darin, wie sie ihre Geschichte erzählen, voller Unterbechungen und Abschweifungen, eine Geschichte, die aus Kritzeleien entsteht. Sie gleichen sich auch insofern, als Tristram erst seit ein paar Tagen auf der Welt ist, während Brás erst seit ein paar Tagen tot ist. Auch Brás’ Lieblingsprojekt, ein »Anti-Hypochondrie-Pflaster, das unsere melancholische Menschheit trösten sollte« [286] , gleicht Tristrams Wunsch, etwas zu finden, »um […] die
Galle
und andere
bittere Säfte
aus der Gallenblase, Leber- und Gekrösdrüse von Seiner Majestät Untertanen samt all den schädlichen Leidenschaften, so sie bergen, hinweg in den Zwölffingerdarm zu spülen«. [287] Und die wichtigste Ähnlichkeit ist ihre ganz bewusste Direktheit. Beide Erzähler verschwenden ihre Zeit nicht mit emotionalen und fiktionalen Klischees.
»Vielleicht wundert sich der Leser«, sagt Brás, »wie offen ich ihm meine Mittelmäßigkeit darstelle und sogar noch unterstreiche. Ich mache ihn ergebenst darauf aufmerksam, dass Offenheit die erste Tugend eines Verstorbenen ist […] Was für ein Unterschied, wenn man tot ist! Was für ein Aufatmen! Was für eine Befreiung! […] Der Blick der öffentlichen Meinung, dieser scharfe und richterliche Blick, verliert an Kraft, wenn man das Reich der Toten betritt.« [288]
Tristram und Brás sind Experten solcher paradoxer Sätze – in denen einem präparierten Publikum voll unbehaglicher Leser das Fehlen eines Publikums verkündet wird. Sie sind beide Meister der Sprunghaftigkeit und rechtfertigen diese mit ihrer »Willensschwäche, Schrullenhaftigkeit und was dazugehört«. [289]
Aber da enden die Ähnlichkeiten auch schon. Denn ein Resultat von Brás’ postmortaler Narrenfreiheit sind all die Dinge, die er mit seiner Erzählform anstellen kann: Er ist voll ungeduldiger und kluger Einfälle, um ein Buch kürzer, ökonomischer und weniger langweilig zu machen. Denn ein nach Brasilien verpflanzter Laurence Sterne ist schließlich nicht mehr Laurence Sterne. Man bekommt etwas völlig anderes. Darin liegt die Bedeutung eines Multiples. Und so beschleunigt sich in Rio de Janeiro alles: wie die Kritzeleien eines Geschwindigkeitsfreaks.
2
Seine bravourösen Übergänge! (»Ich bitte um geneigte Aufmerksamkeit, wie geschickt und kunstvoll ich den größten Übergang bewerkstellige, der in dem Buch vorkommt. Also: Als mein Delirium anfing, war Virgília dabei; Virgília war meine große Jugendsünde; ohne Kindheit keine Jugend, Kindheit setzt Geburt voraus, und schon sind wir mühelos beim 20 . Oktober des Jahres 1805 angekommen, meinem Geburtstag. Habt ihr’s gemerkt? Keine merkliche Verbindung, nichts, was die verhaltene Aufmerksamkeit des Lesers ablenken könnte.« [290] ) Sein bravouröses Kapitel, das nur aus einer kurzen Liste von Notizen besteht! »Bier, Fackeln, Einladungen, Geladene, die mit dumpfen Schritten langsam eintreten« – als Ersatz »für ein trauriges, alltägliches Kapitel, das ich aber nicht schreibe«. [291] Seine bravourösen Dialoge! Denn Machado de Assis ist sich darüber im Klaren, dass man für gewisse Unterhaltungen gar keine Wörter braucht, wie zum Beispiel, um »den alten Dialog zwischen Adam und Eva« darzustellen: Zeichensetzung reicht dafür völlig aus:
Brás Cubas
.....................?
Virgília
...........
Brás Cubas
.............................................?
................................
Virgília
................................!
Brás Cubas
...........
Virgília
.............................................
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Brás Cubas
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Virgília
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Brás Cubas
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...!.........................................
...........................................!
Virgília
................?
Brás Cubas
................!
Virgília
....................................! [292]
Ja, Machados Einsichten sind bravourös. Seine Einsichten
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