Der multiple Roman (German Edition)
Kontrast zwischen dieser Bibliothek, die er im Laufe seines Lebens zusammentrug, und den romantischen Libretti seiner Jugend ist eine Allegorie für die von ihm erlernten Technik. Nach und nach legte er seine Provinzialität durch harte Arbeit ab: Er wurde einzigartig und international. Denn wenn sich der internationale Leser vor Augen führt, was Machado de Assis mit den von Laurence Sterne erfundenen Formen machte, sollte er daran denken, dass Machado de Assis Sterne weder auf Englisch lesen konnte (weil er kein Englisch konnte), noch auf Portugiesisch (weil es bis zum zwanzigsten Jahrhundert keine Übersetzung von
Tristram Shandy
ins Portugiesische gab). Er las Laurence Sterne auf Französisch. Er besaß eine Ausgabe von
Tristram Shandy
von 1849 und eine Ausgabe von
A sentimental journey
(
Eine empfindsame Reise
)
von 1861 .
Und weil die französische Ausgabe von
Tristram Shandy
, die Machado besaß, 1849 gedruckt worden war, kann es gut sein, dass es sich dabei um jene Übersetzung handelte, die ein Jahr zuvor von Léon de Wailly angefertigt worden war. Aber vielleicht handelte es sich auch – und dies ist fast wahrscheinlicher – um eine neue Auflage der Standardübersetzung aus den 1770 ern. Wenn es sich wirklich um de Waillys Fassung handelte, dann hatte Machado de Assis Zugang zu einer guten Annäherung an Sternes Text. Handelte es sich dagegen um die Übersetzung aus den 1770 ern, dann las er etwas weniger Genaues als eine Annäherung – eher eine Art Graffiti …
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Die erste französische Übersetzung von Laurence Sternes Roman
Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
– bis zum Ende des vierten Bandes – erschien 1776 . Sie stammt von einem Mann namens Joseph Pierre Frénais. Die Übersetzung des restlichen Romans wurde gleichzeitig von Griffet de la Beaume und dem Marquis de Bonnay begonnen. De la Beaumes Übersetzung ist zwar etwas besser als die des Marquis de Bonnay, aber sie wurde aus unbekannten Gründen nicht wieder aufgelegt; und so wurde eine Verschmelzung von Frénais’ und de Bonnays Übersetzungen der französische Standardtext.
Aber es war bei weitem keine akkurate Übersetzung.
Denn Frénais scheint Sternes obszönen Sinn für Humor nicht geteilt zu haben. In seinem »Advertisement« am Anfang des Buches teilt er dem Leser daher mit: »Monsieur Sternes Witze schienen mir nicht immer sehr gut zu sein. Ich ließ sie, wo ich sie fand & ersetzte sie mit anderen.« [295] Frénais pfuschte also in Sternes Struktur versteckter Anzüglichkeiten herum, so dass jene besonderen Techniken, für die er bekannt war – die Auslassung von Wörtern oder die vermeintliche Auslassung von Wörtern – wieder normalisiert wurden. In der Folge wurden Sternes verschmitzte Kompromittierungen seiner Leser (»Meine Schwägerin, möchte’ ich meinen, fügte er hinzu, mag’s nicht leiden, kommt ihr ein Mann so nah an ihre ****.« [296] ) viel ordinärer, viel heikler (›Ma soeur ne veut apparemment pas qu’un homme l’approche de si près …‹ [297] )
Aber Frénais griff nicht nur bei den Obszönitäten ein; er strukturierte Absätze um, ließ Zeilen aus, die ihn zu langweilen schienen, und fügte seine eigenen Ausschmückungen hinzu. Anders als Samuel Johnson teilte er dies seinen frankophonen Lesern allerdings nicht mit. Frénais hatte ein besonderes Problem mit Sternes typographischen und buchliebhaberischen Tricks – wie mit dessen Leerseite oder der schwarzen Seite. Wo Sterne eine marmorierte Seite eingefügt hatte (»buntscheckiges Sinnbild meines Werkes!« [298] ), tat Frénais dies nicht. Aber andererseits beschloss er, dass es besser sei, an der Stelle, an der Sterne Tristrams Vater die Pannen bei Tristrams Geburt in einwandfreier, vor sich hinlaufender Prosa beklagen ließ, eine nach oben ansteigende Reihe des Wortes
hélas
– Ach! – einzufügen, um den aufsteigenden und absteigenden Ton von Walters Klage zu repräsentieren:
hélas
hélas
hélas
hélas
hélas
und dann noch eine Reihe
hélas
, in die entgegengesetzte Richtung. [299]
Aus alldem ergibt sich die Frage: Was las der frankophone Leser wirklich, wenn er Sterne in dieser Übersetzung las?
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1937 hatte der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz eine Kurzgeschichtensammlung und einen
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