Der multiple Roman (German Edition)
beruhen auf der Tatsache, dass ein Roman viel kürzer sein kann, als man bisher generell angenommen hatte. Sicher, er übernahm die Form von Sternes musikalischem Roman: Aber dann verstärkte er all seine Effekte noch weiter.
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Und mit dieser Beschleunigung erfand Machado de Assis eine neue Art der Selbstkritik: Er entwickelte eine neue Methode, um den Prozess des Fühlens, wie er wirklich ist, darzustellen.
Es begab sich beispielsweise einmal – teilt Brás Cubas dem Leser in einer scheinbar sinnlosen Abschweifung mit –, dass er von seinem Esel abgeworfen wurde, sich im Bügel verfing und von einem Maultiertreiber gerettet wurde, der die Zügel packte und das Tier beruhigte. In seinem emotionalen Zustand nach dieser Nahtoderfahrung beschloss er, dem Mann drei der fünf Goldstücke zu geben, die er bei sich hatte. Aber als er das Geld aus seiner Geldtasche holen wollte, entschied er, dass zwei Goldstücke eigentlich auch genügten. Vielleicht sogar eins. Letzten Endes gab er dem Mann einen Silberkreuzer, ritt weg und drehte sich nach wenigen Schritten noch einmal um. »Da erwies mir der Treiber mit dem offensichtlichen Ausdruck der Zufriedenheit alle Ehrerbietung.« Das löste bei Brás neue Zweifel aus: »Vielleicht hatte ich ihm zu viel gegeben.« Brás griff in seine Westentasche und fühlte einige Kupfermünzen. Die hätte er dem Treiber statt des Silberkreuzers geben sollen. »Ich nannte mich verschwenderisch und buchte den Kreuzer auf Rechnung meiner früheren Ausschweifungen. Ich hatte (warum soll ich nicht alles sagen?), ich hatte Gewissensbisse.« [293]
Ich liebe diese Episode, wirklich. Mit diesem Hochgeschwindigkeits-Diminuendo – angefangen mit dem überschwänglichen Wunsch, großzügig zu sein, bis hin zu Brás’ großer Reue über seine Verschwendung – demonstriert Machado de Assis, dass er Sterne imitiert, bei dem eine Erzählpassage gleichzeitig fortschreiten und abschweifen kann. Die Abschweifungen sind eigentlich in den Text geschmuggelte Beschreibungen. Denn ein Klischee des Kitsches oder Schmalzes besagt, dass der Mensch edel sei und seine Gefühle großartig und schön. Machado de Assis hingegen nimmt, mit seinem Hochgeschwindigkeits-Arrangement von Motiven, all diese schmalzigen Vorrichtungen auseinander.
Und ich denke: An dieser Stelle lässt sich ein weiteres Element zu der internationalen Anthologie des Krempels hinzufügen. Denn diese Memoiren des Brás Cubas sind eine kleine Anthologie der veralteten literarischen Formen: der Anekdote, der Vignette, der Apologie, der Karikatur, des Rätsels, des Porträts, des Vorworts. Es sind Elemente der Rhetorik des neunzehnten Jahrhunderts. Weil die Wahrheit über das Menschliche in Rio de Janeiro – und diese Wahrheit gilt überall –, ist, dass alle menschlichen Erfindungen heruntergekommen sind, der reinste Müll.
Drittes Multiple
1
Während Machado de Assis in Rio de Janeiro daran arbeitete, Schriftsteller zu werden, hielt er sich finanziell mit Übersetzungen aus dem Französischen über Wasser. Diese Übersetzungen waren kommerziell. Weil Machado de Assis Geld brauchte, übersetzte er nur die Werke, von denen er wusste, dass sie in Rio de Janeiro gelesen werden würden. Dort wollte man Romantik, also gab er ihnen Romantik. Er übersetzte die Dichtung französischer Romantiker, wie beispielsweise Lamartine. Er übersetzte schlechte Libretti aus schlechten romantischen Opern. Und als man die Gedichte des polnischen romantischen Dichters Adam Mickiewicz lesen wollte, übersetzte Machado de Assis auch diese. Selbst in späteren Jahren übersetzte er weiterhin den größten romantischen Kitsch wie Baudelaires Übersetzung von Poes romantischem Gedicht »The Raven«.
Alles machte den Weg über das Französische, und alles war romantisch.
Die Geschichte von Machado de Assis’ Übersetzungen zeigt eindrücklich die Probleme des provinziellen Geschmacks. Wie jeder Schriftsteller musste er seine eigene Provinzialität überwinden und eine internationale Technik erlernen. Und der Ausgleich zu seiner alltäglichen Arbeit lag für ihn im privaten Raum seiner Bibliothek.
Machado de Assis besaß eine 1859 in Paris erschienene französische Ausgabe der Werke von Jonathan Swift in der Übersetzung von Léon de Wailly, die den Titel
Opuscules humoristiques
trug. Von Diderot hatte er eine zweibändige Ausgabe von 1880 ,
Œuvres choisies
, erschienen bei Garnier. Er besaß außerdem die Werke von Balzac, Flaubert, Stendhal … [294] Der
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