Der multiple Roman (German Edition)
Schriftsteller musste immer noch erklären, worin eigentlich die Bedeutung dieser Ketten der endlosen Ursachen genau lag. Und so notierte Gadda weiter:
Was mich betrifft, so werde ich durch eine Umkehrung der
Norm
(des Gesetzlichen) das interpretieren, wodurch man das
Abnormale
(das Ungesetzliche) erhält – dessen Gegenwart es der Norm ermöglicht zu existieren (meine Vorstellung von der Polariät) –, und diese Abnormalität kann mit der Norm in einem Zustand des Gleichgewichts existieren. – Unsittlichkeit existiert nur insoweit, als auch Sittlichkeit existiert und umgekehrt. Kriminalität existiert insofern, als auch Unschuldigkeit existiert, und sie reagieren jeweils aufeinander. –
Das Konzept ist weiterhin sehr undeutlich. Im herkömmlichen Sinne: »Ohne Ausnahmen kein Gesetz, Ausnahmen bestätigen die Regel.«
Das Kombinieren, der Instinkt, die Dinge zu kombinieren, ist ein Bestandteil des Universums. – Gleichgewicht ist die bewusste Bestätigung des Zustands der Kombination; während alles, was kein Gleichgewicht eingehen kann, unkombinierbar ist und unwirklich. Es ist Fehler. [320]
Er ist verrückt und auch immens – dieser kleine Moment in den Aufzeichnungen zu einem nie beendeten Roman. Ich meine, das muss man sich mal vorstellen! Erst skizziert Gadda ein System der binären Gegensätze – und dann bestimmt er, dass beide Gegensätze den jeweils anderen enthalten sollen: so dass ein System dazu fähig sein muss, das einzubeziehen, was es ausschließt. Was in der Folge bedeutet, dass jedes System auf gewisse Weise instabil bleiben muss, so dass es immer wieder stolpert und mitten in das hineinfällt, was es auszuschließen schien. Deshalb, schreibt Gadda, ist das Abnormale Teil der Norm und das Asoziale Teil des Sozialen. Soweit hatten ihn seine Betrachtungen über den Faschismus und die Legalität gebracht: zur Erkenntnis, dass Macht alles legalisieren kann, die eigene Machtaneignung einbezogen. Und dies wiederum ließ ihn erkennen, dass die herkömmliche Romanform – die herkömmliche Ausschließung der ganzen übrigen Welt durch eine lineare Erzählung – unhaltbar ist. Die Übertragung »dieser so
wohltätigen
, so auf die
Rechtfertigung
abzielenden Vorstellung« auf die Romanform müsste »nicht nur auf die Helden des Romans« angewandt werden, oh nein, sondern auch auf »die sekundären, antinomischen Figuren«: ja, auf »alle«. Es wird zu einem wissenschaftlichen Prinzip von nicht-wissenschaftlicher Beschaffenheit: eine totale Instabilität. [321] (Genauso misstraute ein anderer Künstler der Moderne der modernistischen Liebe zur Form: und zwar Georges Bataille, der nicht an Vermittlung glaubte, für den alle Dinge auf immanente Weise heterogen waren.)
So schreibt Bataille in
La Notion de dépense (Der Begriff der Verausgabung)
, ungefähr eine Dekade nach Gadda, als die Faschisten immer noch an der Macht waren: »Die Materie kann in der Tat nur definiert werden als die
nicht-logische Differenz
, die für die
Ökonomie
des Universums das ist, was das
Verbrechen
für das Gesetz ist.« [322] Was seiner Logik zufolge bedeutet, dass es im Prinzip nur Differenzen gibt und somit auch nur Verbrechen, da das Gesetz und die Ökonomie nichts weiter sind als bequeme Fiktionen. Wie Bataille in »Les Deviations de la Nature« schrieb, bestehe die Natur tatsächlich fast gänzlich aus Abweichungen. Und dies ist ein Grund, ein wichtiger Grund, weshalb Gadda diesen Roman für Mondadori nicht in den vorgegebenen vier Monaten abschließen konnte. Es ist der Grund, weshalb er ihn überhaupt nicht zu Ende bringen konnte: oder sogar, weshalb Gadda es im Prinzip unmöglich fand, etwas zu beenden, das er begonnen hatte, egal, worum es sich dabei handelte.
5
Das stimmt beispielsweise auch im Falle seines berühmtesten Romans
Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana
, der mit einem Diebstahl beginnt, dann mit einem Mord aufwartet und in einem Zustand der narrativen Anarchie zu enden scheint, in dem sich der Detektiv von Hinweis zu Hinweis bewegt, aber nur auf immer größere Rätsel stößt: Es ist ein Kriminalroman, in dem die Polizei völlig hilflos ist. In Amerika taufte man diese Form wohl
noir
; in Europa nannte Gadda sie ganz schlicht Roman. Aber diese absolute Ablehnung alles Systematischen, ausgelöst durch die Entschlossenheit, das System bis zu seinen Wurzeln hin zu erkunden, bedeutete, dass es nicht nur Romane waren, die Gadda einfach nicht beenden konnte: Sogar seine Notizen waren
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