Der multiple Roman (German Edition)
von enormem Umfang. Und das erinnert mich an eine andere seiner Geschichten, die auch einen Straßennamen im Titel trägt: den der Via Keplero in Milano. Ja, ich denke hier an Gaddas Text
L’incendio di Via Keplero
, der zwischen 1930 und 1935 entstand, am Anfang seiner Karriere, und den er erstmals 1940 in einer kleinen Zeitschrift unter dem Titel
Studio 128 per l’apertura del racconto inedito: L’incendio di via Keplero
: oder, in der Übersetzung:
Studie 128 für den Anfang einer unveröffentlichten Geschichte: Der Brand in der Via Keplero
veröffentlichte. Der transalpine, transatlantische Leser sollte zuerst bei Gaddas Ausdruck »studio« haltmachen. Studien, schrieb Gadda, seien »Kompositionsversuche, kleine Kompositionen, die man in den Roman einbauen oder abändern kann …« Aber auf der anderen Seite, fügte er hinzu, sei eine Studie »bereits in sich abgeschlossen, fertig«. [323] Eine Studie ist ein Bolus aus reinem Romanstoff. Sie ist abgeschlossen, sicher, aber gleichzeitig immer Teil eines unvollendbaren, unendlichen Ganzen. Genauso wie Gaddas Studie über einen Brand in der Via Keplero – ein Frühwerk, richtig, und deshalb noch nicht so vollständig von Pluralität zerfressen, wie Gaddas spätere Texte es sein sollten – in Wirklichkeit eine Studie der multiplen Leben ist, die gleichzeitig in einem einzigen Häuserblock gegenwärtig sind: So wurde seine Geschichte, Abschnitt für Abschnitt, zu einer Auflistung der einzigartigen, ineinandergreifenden Hintergrundgeschichten der einzelnen Figuren. Und es ist diese melancholische Analyse der Einzelteile und der Gesamtheiten, auf der Gaddas Ernsthaftigkeit als Autor beruht: Er zwingt den Roman, sich mit der Frage zu befassen, wann etwas umfassend ist.
Henry James hatte beispielsweise seine ganz eigene Lösung für dieses Problem gefunden – indem er Gegenstand und Geschichte voneinander trennte: Ein Gegenstand war ein Themenzyklus und konnte somit in einen Roman eingegliedert werden, während eine Geschichte aus endlosen Wendungen bestand und deswegen überhaupt nicht aufgenommen werden konnte, weil sie unendlich war. Das ist natürlich auch eine Lösung, aber Gaddas gegenteiliges Bekenntnis zur Endlosigkeit hat etwas besonders Wunderbares. »›Jeder Effekt hat seine Ursache‹ ist eine Behauptung, die ich absolut nicht verstehe.« Das notierte Gadda im Jahre 1928 . »Ich, ich sage ›jeder Effekt (Knotenpunkt der Verhältnisse) hat seine Ursachen‹.« [324] Diese Fixierung auf die plurale Kausalität war das logische Grundprinzip, auf dem seine Romane, seine Noirs beruhten: Und da ist es, im Kleinformat in der Struktur einer Geschichte, die auch ein Prolog ist:
Der Brand in der Via Keplero
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Aber auf der anderen Seite: Wie kann der transalpine, transatlantische Leser all das wissen? Ich meine mich selbst: Ich spreche kein Italienisch, niente! Nur das Italienisch der mittelmäßigen Ristorantes. Und das bedeutet, dass mein Verständnis von CEG natürlich ein anderes ist als das eines Mailänders; ja, es bedeutet, dass ich beispielsweise nicht wirklich wissen kann, was Gaddas Lektor und bester Kritiker Gian Carlo Roscioni wirklich unter dessen Stil verstand, mit seinen »seltsamen Substantivierungen von Adjektiven, Vertauschungen von Nomen und Verben; Periphrasen, Adjektive und Substantive; Konstruktionen, die auf Nebeneinanderstellungen basieren …« [325] Wie auch seine Wortspiele mit Morphemen, seine Etymologien, insbesondere sein obsessives Spiel mit Dialekten, seine Bewegung vom Römischen und Lombardischen hin zum reinen Italienisch; und seine Freude an der Gratwanderung zwischen akademischem Vokabular und der totalen Fragmentierung unserer herkömmlichen Sprechblasen – eine Methode, die er erst dann wirklich verdichtete, wenn er einen Text wieder und wieder überarbeitete und änderte: Denn, genau wie Proust und Joyce, fügte Gadda beim Überarbeiten seiner Geschichten neuen Text hinzu.
Und trotzdem: Vielleicht ist genau dies der Grund, weshalb Gadda internationalisiert werden sollte. Denn er ist immer noch ein Rätsel, gefangen in der speziellen Problematik der italienischen Sprache, und in ihrer Politik – in dieser Sprache, die nicht wirklich
eine
Sprache ist. Weil sie von der Vielzahl ihrer Dialekte und Jargons gleichsam zerpflückt wird, so dass Gaddas wahres Genie im Italienischen seltsam verborgen ist. Weil der italienische Leser viel zu oft abgelenkt wird – so scheint es mir jedenfalls, der ich nicht Italiener
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