Der multiple Roman (German Edition)

Wirklichkeit nicht einmal annähernd: Was Gadda schrieb, war ein absolutes Durcheinander. Aber natürlich können auch Durcheinander einen Nutzen haben. Und vielleicht ist dies ein guter Ausgangspunkt: der unsichtbare Anfang von Gaddas Karriere im Inneren eines manischen Notizbuches.

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    Gaddas erster Titel für seinen Roman, seinen emblematischen
Racconto Italiano
, war
Italienische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Aber er könnte auch
Geschichte eines mittelmäßigen Schriftstellers des XX . Jahrhunderts
heißen, fügte er ein paar Tage später hinzu, oder auch:
Geschichte eines unbekannten Mannes des zwanzigsten Jahrhunderts
. (Die Aufzeichnungen wurden letztendlich nach seinem Tod unter dem Titel
Italienische Geschichte eines unbekannten Mannes des zwanzigsten Jahrhunderts
veröffentlicht.) Ja, Gadda war unbekannt, sicherlich, aber er war alles andere als mittelmäßig. Das »Cahier d’études«, in dem er den Entwurf seines unbeendeten Romans aufzeichnete, unterschrieb er mit Carlo Emilio Gadda: Captain in the Fifth Alpine Regiment, Engineer in Industrial Electricity … Der Schriftsteller-Ingenieur! Das war Gadda. Und keine Frage: Seine Ausbildung machte sich bemerkbar.
    Die Aufzeichnungen in Gaddas Übungsheften waren feinsäuberlich in Notizen und Studien getrennt: Die Notizen betrafen die Organisation des Werks, während die Studien Kompositionsübungen waren. Seine erste Studie fand an jenem Nachmittag statt – als er entschied, dass sich aus den »chaotischen Tiefen« dieses Werks zwei Gruppen von Figuren herausbilden sollten: jene Figuren, die die Richtung der Geschichte bestimmen sollten, und jene, die das Gewissen der Geschichte bildeten. Vielleicht, fragte sich Gadda, könnte er selbst dieses Gewissen sein. Und dies war also seine unmittelbare Vorstellung von der Form eines Romans: Sie sollte essayistisch sein und ihren eigenen Kommentar gleich miteinbeziehen.
    Einige Seiten später, am 28 . März um 16 . 00  Uhr, entdeckte Gadda die versteckte Bedeutung seiner Handlung. Die Handlung bestand aus der Geschichte des faschistischen Putsches – und so war ihr Thema ein dunkles Paradox:
»Auch regelwidrige und grausame Vorgänge sind Teil unserer Gesetze, obwohl sie außerhalb des Gesetzes zu stehen scheinen.«
[317] Eine halbe Stunde später wartete er mit einer weiteren Meditation über dieses Thema auf, über diese Vorstellung, dass abnormale und kriminelle Vorgänge legal werden können: Alles sei verwandt, schrieb er, mit seiner »persönlichen Vorstellung von den Kombinationsmöglichkeiten«. [318]
    Und, nun gut, das ist etwas undurchsichtig, wobei man natürlich in Betracht ziehen muss, dass Gadda nur mit sich selbst redet. Aber es handelt sich ja schließlich auch um ein Notizheft, und als solches muss es langsam und diagonal gelesen werden. Denn dies ist in gewisser Weise eine Studie für den zukünftigen Roman: für Gaddas Roman, aber auch für alle anderen.

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    Gaddas imaginärer Roman sollte sich damit befassen, wie kriminelle Machenschaften durch die Gesetzgebung legalisiert werden, sobald Kriminelle die Macht übernehmen. Das sollte, grob gesagt, der Inhalt seines Buches sein, in dem er sich mit dem Faschismus auseinandersetzte. Aber Gadda, der ein seltsamer und geduldiger Modernist war, entwickelte diesen Plan nicht mit den normalen Mitteln, wie beispielsweise die Instrumentalisierung der Handlung und der Figuren, sondern als eine Art abstrakte Philosophie. Und dies bedeutete, dass er unwillentlich die Romanform aus ihrem Rahmen sprengte. Gadda zerstörte sie so gründlich, dass er selbst sich nie davon erholen sollte. Denn statt sich darauf zu konzentrieren, seine Figuren und ihre Beweggründe zu entwickeln, und all die anderen Hollywood-Tricks, die normalerweise hierfür herangezogen wurden, begann Gadda, über sein Konzept der »Determinierung« nachzudenken: »die Kombination A durch ihre ursächlichen Elemente A 1 , A 2 , etc. erklärt« – »die zurückreichen, kontinuierlich zurückreichen, aber immer an einem Endpunkt ankommen«. Um sich die Sache einfacher zu machen, zeichnete er eine Art Kurve und erklärte dann: »Determinierung bedeutet, die Kurve der Ananke zu lesen, nicht sie zu deuten.« [319] Was zeigt, dass er sich nicht nur über Kriminalität und Legalität Gedanken machte, sondern deshalb, oder trotzdem, auch über das Schicksal nachdachte: die endlosen Kausalketten. Aber die Metapher der Kette ist nur eine mögliche Beschreibungsweise: Der