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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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ist.
    Jegliche Freiheit, die eine Figur in der Fiktion innehat, ist eine Illusion. Sie sind schließlich nur ausgedacht. Aber letztendlich ist alles auf gewisse Weise ausgedacht. Wenn man diese traurige Tatsache einmal akzeptiert hat, erkennt man schnell, dass es mehr oder weniger präzise Mechanismen gibt, um sie zu umschiffen. Eine ist es, die Figur sich selbst widersprechen zu lassen. Und eine andere, wenn der Autor selber in der Geschichte auftaucht – was eine Doppeldeutigkeit schafft, eine Komplikation.
    Der Mangel an Freiheit basiert bei den Figuren eines Romans auf der Tatsache, dass der Autor tatsächlich wirklich ist, während sie es nicht sind. Aber sobald Puschkin selbst in der Geschichte auftaucht und somit zur Fiktion wird, gewinnen die Figuren einen neuen Anschein von Freiheit. Freiheit wird bei Puschkin durch die Unabhängigkeit der Geschichte von einem allwissenden Erzähler entwickelt. Da sie seine Wirklichkeitsebene teilen, sind Puschkins Figuren so undurchsichtig für ihn wie echte Menschen. »Nun laßt uns heimlich lauschen/der Unterhaltung unserer Helden.« [312] Die Figuren sind immer flüchtig – so flüchtig, dass sie Puschkin weglaufen und er dazu gezwungen ist, Scherze darüber zu machen, dass er, abgelenkt durch seine Beschreibung eines Balls, zurückgefallen ist und sich beeilen muss, um Onegin auf dem Nachhauseweg wieder einzuholen.
    Die von Puschkin geschaffene Beziehung zwischen Autor und Figur gleicht der liebevollen, aber notwendigerweise distanzierten Beziehung zwischen Freunden. Und so grummelt Puschkin, nachdem Onegin Lenski im Duell getötet hat: »Obwohl ich natürlich zu ihm zurückkehren werde,/ist mir doch jetzt nicht nach ihm zumute.« [313] Oder er kann zärtlich erzählen: »Tatjanas Brief liegt vor mir,/ich hüte ihn wie ein Heiligtum,/lese ihn mit heimlicher Wehmut/und kann mich nicht daran sattlesen.« [314] Aber diese Technik führt nicht nur eine Freiheit mit sich, sondern zwei. Sie gibt nicht nur den Figuren eine gewisse Freiheit von ihrem Erzähler, sie gibt auch dem Erzähler Freiheit von seinen Figuren. Und dies ist ein Aspekt, den Puschkin nicht völlig ausschöpft, den er unentwickelt lässt. Es sollte kühneren Erzählern, den essayistischen Erzählern, überlassen bleiben, sich ihren Figuren so anzunähern – mit historischen Theorien oder Abschweifungen. Aber, was soll’s? Hier in Sankt Petersburg hatte Puschkin im Jahre 1824 genug erreicht: Er hatte seine eigene Variation über das Thema der Unfreiheit geschaffen.
    3
    Puschkins Theorie war, dass Figuren realistisch werden, sobald sie mehr als einen Charakterzug besitzen, sobald sie ihre Meinung ändern können. Aber dies hatte eine unerwartete Folge: Sobald eine Figur ihre Meinung ändern kann, ist es ihr möglich, sich von der Handlung frei zu machen und auch vom Erzähler der Handlung. Denn der Roman endet mit Tatjanas Zurückweisung von Eugen. Sie ist, wie sie ihm mitteilt, jetzt verheiratet. Aber es handelt sich dabei nicht wirklich um eine Zurückweisung: Es ist eine komplizierte Art der Zurückweisung in einem komplizierten Roman. Es ist einfach verdammt schlechtes Timing:
    Das Glück war doch so möglich,
    so nah! … Aber mein Schicksal
    ist bereits besiegelt. Unbedacht
    habe ich vielleicht gehandelt:
    Mit Tränen der Beschwörung
    flehte ich meine Mutter an: Der armen Tanja
    waren alle Geschicke gleich …
    Ich heiratete. Sie müssen
    mich verlassen, ich bitte Sie;
    ich weiß, in Ihrem Herzen sind
    Stolz und ebenso wahres Ehrgefühl.
    Ich liebe Sie (wozu es verhehlen?),
    aber ich bin einem anderen gegeben;
    nein, niemals hat die Aufwallung der Leidenschaften
    derart zerrissen meine Seele;
    ich werde ihm mein Leben lang treu sein. [315]
    Tatjana weist Onegin zurück: Und sie gibt gleichzeitig zu, dass sie ihn liebt. Ihre pflichtbewusst-romantische Aussage ist voll Bedauern.
    Das ist eine Qual für den am Boden zerstörten Leser. Und es ist in gewisser Weise ein künstliches Ende. Denn es mag wohl sein, dass Puschkin – wie Tolstoi im Zusammenhang mit einer Geschichte, die er von der Prinzessin Mestchersky gehört hatte, gerne erzählte – geklagt hatte: »Stell dir vor, was mit meiner Tatjana passiert ist? Sie hat Onegin aus dem Blauen hinaus abgewiesen … Das hätte ich nie von ihr erwartet!« [316] Aber Puschkin scherzte natürlich. Tatjanas Freiheit, die romantischen Konventionen umzustürzen, indem sie sich an die Spielregeln der herkömmlichen Sitten hält, ist nur möglich, weil

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