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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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an einem ›Theatron‹, an einem offensichtlichen Punkt der Handlung, alle schlummernden und noch so fernen Lebenskräfte und ordnen sie neu«. [328] Das Individuum ist in diesem Theatron nur ein elektrischer Leiter: Das Individuum ist nur ein Kraftfeld.
    Und während dies wie experimentelle Literatur in ihrer reinsten Erscheinungsform klingen mag, ist ein Grund Gadda noch mehr zu mögen, dass er ohne es zu wollen an diesem laborartigen Ort landete, indem er einfach der Logik seiner Argumentation folgte. Armer Gadda! Er war ein Anhänger von Manzoni, von Zola: von den Panoramen des neunzehnten Jahrhunderts. Einmal lobte er die »hoch- und weitreichende manzonische Schöpfung, reich an Wechselbeziehungen und Kontrasten, die einen Wert von kombinatorischer Realität haben (Moravia nennt es »Realismus«), von logischer Realität«. [329] Einmal sagte Gadda, er sei nichts, als
ein ganz winziger lombardisches Zolicule
. Und diesem Mini-Zola ging es daher wie seinem Meister auch vor allem darum, eine Kette von Fakten zu bilden. Seine Helden, seine Detektive, streben alle nur nach der Quelle der Bedeutungen und Ursachen. Aber die Zeit des Kriminalromans war vorbei. Das ist die traurige Entdeckung, die Gadda machte. Jede Auflistung wird letztendlich zu einer Rekonstruktion der Vergangenheit: Das Horizontale wird vertikal. Und diese rationale Erkenntnis bedeutet zunehmend, dass überhaupt keine rationale Erklärung der Welt möglich ist. Der Roman – dieser Vermittler von Form – wird unvermeidlich zu einem Vermittler der reinen Entropie.

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    Und ich begann mich zu fragen, ob diese vielfältige, deformierte Realität Probleme machen würde, wenn man versuchte, sie auch noch in einer anderen Sprache zu vervielfältigen. Denn ein Aspekt von Gaddas Stil war seine Liebe zu unbegründeten Änderungen auf der Ebene der Sprachregister oder der Wirklichkeit. Seine Sätze sind ein Durcheinander aus einer gehobenen, lateinnahen Sprache und aus Dialekten oder aus Sprachfetzen, die er vielleicht irgendwo aufgeschnappt hatte. Aber in Übersetzungen werden solche unbegründeten Änderungen oft als Indiz dafür genommen, dass es sich um eine schlechte Übersetzung handelt – weil sich der Übersetzer, so das Argument, nicht für einen Ton entscheiden konnte. Und die große Gefahr bei der Übersetzung von Gaddas Texten wäre es, dass sich das Resultat sehr wie eine Übersetzung anhören würde, eben weil sich Gadda schon im Italienischen so anhört wie eine Übersetzung – was heißen soll, dass er ständig völlig ohne Vorwarnung seinen Ton ändert. Im Italienischen waren diese Tonänderungen natürlich von Gadda abgesegnet. Und so könnte die englische Nachdichtung eines Werkes von Gadda, wenn sie als Originalgeschichte veröffentlicht würde und somit einer ebensolchen kreativen Autorität unterstände, von Lesern in New York oder London als ein legitimes Experiment in der englischen Sprache angesehen werden, mit ihrer Syntax und ihren Bildern. Aber wenn dieses sekundäre Werk als Übersetzung gelesen würde, so wäre es durchaus möglich, dass Gaddas Stil wie Übersetzerisch klänge. Was also vielleicht nötig wäre, um Gadda treu zu bleiben, ist die Erschaffung eines Ersatz-Gaddas. Und zu diesem Zeitpunkt, als ich gerade zu verzweifeln begann, las ich zufällig etwas über die Werke des Künstlers Gordon Matta-Clark, dessen Ideen mich immer mehr an Carlo Emilio Gadda denken ließen und daran, wie man ihn bloß international vervielfältigen könnte. Und das lag teils daran, dass sich Matta-Clark gerne überlegte, was man mit Wohnanlagen anstellen könnte – genau wie Gadda –, aber auch, weil Matta-Clark wie ich selbst glaubte, dass man etwas über eine Sache herausfinden kann, indem man ausprobiert, wie viel man davon entfernen kann. Matta-Clark präparierte seine Objekte, indem er Teile aus ihnen herausschnitt oder sie zerteilte. Und als ich so über das Konzept des Romans als instabiles Multiple nachdachte, zog ich auf die gleiche Weise die Möglichkeit in Betracht, dass einige Schriftsteller fraktal sind, dass vielleicht sogar viele der Schriftsteller, die ich bewunderte, fraktal waren – denn wo immer man auch in ihre Kompositionen eintauchte, war die Tiefenstruktur sofort präsent. Diese Theorie schien im Fall von Schriftstellern wie Proust oder Sterne zu stimmen. Sie stimmte definitiv in Hinsicht auf Gadda. Der Leser kann sich ihm an jeder Stelle seines Werks anschließen, und er kann genauso jederzeit wieder

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