Der Musentempel
wollen, müssen sie sich an mich wenden, weil in der Geometrie die Antwort auf alle Fragen liegt. <«
»Das ist in der Tat eine eigenartige Bemerkung«, sagte ich.
»Nicht wahr? Ich dachte, es wäre nur eine seiner üblichen philosophischen Aufgeblasenheiten, aber vielleicht auch nicht, was?« Er schüttelte den Kopf, daß die öligen Locken in Haar und Bart nur so hin und her wogten. »Vielleicht war er in Dinge verwickelt, die ein Philosoph lieber meiden sollte. Aber jetzt, Senator, muß ich mich für das Abendopfer vorbereiten. Bitte, bleib doch noch und genieße den Aufenthalt in unserem Tempel.
Alles, was wir haben, gehört auch dir.« Er vollführte eine dieser flatterigen orientalischen Verbeugungen und verschwand.
Mittlerweile war Hermes wieder an meine Seite zurück gekehrt und hatte sich mit Heißhunger über sein in Brot verpacktes Opferfleisch hergemacht.
»Was hältst du von dem Mann?« fragte ich ihn. »Er hat es weit gebracht«, sagte Hermes mit halbvollem Mund.
»Hast du je zuvor Rindfleisch gegessen?«
»Nur ein paar Reste, auf dem Landgut deines Onkels. Es ist ziemlich zäh, aber ich mag den Geschmack.«
»Nimm auch ein wenig Obst und Oliven. Zu viel Fleisch ist schlecht für die Verdauung. Aber inwiefern beeindruckt dich Ataxas? Ich hatte den Eindruck, sein orientalischer Akzent hat sich im Laufe meiner Befragung etwas abgeschliffen.« Eine Priesterin wirbelte, winzige Zymbeln im Takt der Musik gegeneinander schlagend, an uns vorbei. Ihre Gewänder waren zerfetzt, und rote Streifen von der gestrigen Selbstkasteiung zierten ihren Rücken.
»Er hat noch immer Kreide zwischen den Zehen.«
Mir blieb der letzte Bissen im Halse stecken. »Er ist ein Exsklave? Woher weißt du das?«
Hermes schenkte mir ein Lächeln wissender Überlegenheit.
»Hast du den großen Ohrring gesehen, den er trägt?«
»Ja, hab ich. Und?«
»Er trägt ihn, um einen Riß im Ohrläppchen zu überdecken.
In Kappadokien schneidet man einem Sklaven, der zu fliehen versucht, ein Stück aus seinem linken Ohrläppchen.«
Es existiert eine völlig eigene Welt der Sklavenkunde, von der die meisten von uns nie etwas erfahren.
V
»Das hört sich für mich wie blanker Unsinn an«, meinte Julia.
Wir standen auf der Treppe zur Soma, dem Grabmal Alexanders des Großen. Sie war anmutig gekleidet wie eine römische Dame, hatte aber bereits angefangen, ägyptische Kosmetika zu benutzen. Ein schlechtes Zeichen.
»Natürlich ist es Unsinn«, sagte ich. »Wenn jeder lügt, was bei solchen Ermittlungen üblich ist, besteht die Kunst darin, sich vor allem auf die Dinge zu konzentrieren, die nicht gesagt werden, wenn man die Wahrheit herausfinden will.«
»Und was macht dich so sicher, daß er lügt? Weil er früher mal ein Sklave war? Viele Freigelassene haben es nach ihrer Freilassung weit gebracht, und normalerweise brüsten sie sich nicht gerade mit ihrem früheren Status.«
»Oh, das ist es nicht. Aber er hat gesagt, er hätte einen schon länger währenden Disput mit Iphikrates geführt. Ich habe die beiden beobachtet, und es war das einzige Mal an diesem Abend, daß Iphikrates seine Stimme gesenkt hatte. Während eines
Disputes, Du hast ihn selbst erlebt. Er hat stets aus vollem Hals rumgebrüllt, wenn irgend jemand seine Ansichten auch nur im geringsten anzuzweifeln wagte.« Das erinnerte mich an etwas anderes: einen weiteren Mann, den ich noch befragen mußte.
»Ich gebe zu, es klingt unwahrscheinlich«, räumte sie ein.
»Aber was höre ich da über dich und deinen Angriff auf den Befehlshaber der makedonischen Garnison? Irgend jemand hat sich beim König darüber beschwert. Bist du nicht einmal in Ägypten in der Lage, dich aus Ärger rauszuhalten?«
»Der Mann hat sich unverschämt benommen und versucht, das Schwert gegen mich zu ziehen. Man darf diesen Ausländern ein derartiges Benehmen nicht durchgehen lassen.«
»Es ist aber auch nicht besonders klug, sich Feinde zu machen, vor allem wenn einen der Status quo gar nicht betrifft und die lokale politische Landschaft komplett unübersichtlich ist.«
»Eine Mahnung zur Vorsicht aus dem Munde der Nichte Julius Caesars hört sich komisch an.«
»Wenn Männer sich so leichtsinnig gebärden, wird die Vernunft zur Domäne der Frauen. Laß uns nach drinnen gehen.«
Wie so viele andere Wunder alexandrinischer Baukunst war auch der Soma kein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzer Komplex von Tempeln und Grabstätten. Sämtliche Ptolemäer waren hier beerdigt neben
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