Der Musikversteher
besitzen«. Dieser winzige Qualitäts-Katalog für das Gelingen von originellem Popularem sollte über dem Schreibtisch eines jeden Pop-Produzenten hängen.
Und, zum guten Schluss, noch ein belehrend erhobener Zeigefinger: Dissonanzen sind das Salz in der Suppe der Musik. Und damit sind nicht nur die in der (weiter unten) »kleinen Harmonielehre« genannten Reizdissonanzen von Akkorden gemeint: Gerade melodische Ohrwürmer leben häufig von inszenierten Dissonanzen. Wie unattraktiv wäre YESTERDAY (1966),wenn gleich der erste gesungene Ton der konsonante Grundton des Akkords wäre! Die emphatische Betonung der ersten Silbe ist ein Resultat einer Dissonanz, eines Vorhaltes, ein Ganzton höher als der konsonante Grundton. Dieser Vorhalt wird aber dann in den Grundton »aufgelöst« – zu verstehen als ein Prozess: Anspannung – Entspannung. Und weil das so schön war, kommt es auf »far away« gesteigert noch einmal, in höherem Register, auf anderer Harmoniestufe. Der ganze Song lebt von vielen Vorhalt-Varianten. Vorhalte sind eine der vielen melodischen Möglichkeiten, mit akkordfremden Tönen für zusätzliche Reize und Spannungen zu sorgen. Und weil diese Akkorde ja gleichzeitig erklingen, ist das »Reiben« der Dissonanzen gut hörbar und auch so attraktiv. Nichts ist fader als ein nur konsonanter Heile-Welt-Schlager.
Es folgt nun der zweite Teil dieses Kapitels, der enger auf musiktheoretische Grundlagen eingeht. Die »Kleine Formenlehre« wendet sich aber an alle Leser dieses Buches, während die Intervalllehren, die »Kleine Harmonielehre« und die »Kleine Sammlung von beliebten Akkordfolgen und turnarounds« eher als Lektüre für die mit der Materie mehr Vetrauten gedacht sind.
Kleine Formenlehre
Was gibt der »zerfließenden« Zeit in der Musik feste Formen? Wie werden Klänge, Rhythmen, Ohrwürmer geordnet, in ein Kontinuum gebracht? Das geschieht in erster Linie durch Wiederholungen und Entsprechungen. Sie beide wirken als wiedererkennbare Strukturen besonders stark, wenn sie mit etwas anderem konfrontiert werden: mit Kontrasten, mit Überleitungen, mit Entwicklungen.
Eine sehr musikspezifische Verfahrensweise kann auf alle diese fünf angewendet werden: die Variation. Durch Variantenbildungen werden Wiederholungen, Entsprechungen, Kontraste, Überleitungen und Entwicklungen für die Musikhörer (auchfür die Komponierenden!) reicher und attraktiver, aber auch sinnfälliger: Neues wird aus Vertrautem entfaltet.
In allen Musikkulturen aller Epochen gibt es sogenannte Call-and-response-Prinzipien, die vom Wechsel Vorsänger (in der Regel solistisch) – Nachsänger (in der Regel chorisch) leben.
Strophen (verse), Refrains (auch als chorus möglich – dieser Begriff sollte aber wirklich mehrstimmigen Refrains vorbehalten sein), Zwischenspiele (bridge, auch als pre-chorus oder middle eight, vermittelnde Achttakt-Gruppe, interlude oder break möglich) gliedern so, dass Hörerwartungen entstehen, mit ihnen ein Formbewusstsein. Das gilt auch für die Formen der »reinen« Instrumentalmusik. »Instrumentals« sind in der Popmusik selten, aber sie kommen vor.
Der Rahmen wird, wie in der antiken und der klassischen Rednerkunst, der Rhetorik, meist von einer Einleitung (Exordium, neudeutsch Intro) und einem abrundenden Schluss, einer Coda gemacht (»Peroratio« oder »Conclusio«, Pop-Neudeutsch Outro). Eine der vielen möglichen Normalformen eines Popsongs sieht so aus: Intro – Strophe – Chorus/Refrain – Strophe 2 – Chorus/Refrain 2 – Bridge – Coda.
Die Position der Bridge ist variabel; es können auch mehrere und unterschiedliche Arten von »Brücken« sein, instrumental wie vokal. Musiker der »U«-Abteilung sagen »das Intro«, »das Outro« – ich habe eine gewisse Scheu davor und bevorzuge »die Intro«, weil (feminin!) »die Introduktion« aus der lateinischen »introductio« abgeleitet ist, und eine »outroductio« gibt es nicht. 13
Alle diese Formteile haben charakteristische Merkmale: Die Intro soll Erwartungen wecken, ist meist reduziert im Sound und instrumental, hat oft ein Riff, das für den ganzen Song grundlegend ist; die solistische Strophe ist danach in der Regel erzählend, auf einer Tonhöhe rezitierend (die auch umspielt werden kann) – die mittlere Stimmlage wird bevorzugt; der Refrain/Chorus ist meist der Ort für die präzise, knappe Hookline, die Stimme geht in die hohe Lage, wird oft zur Mehrstimmigkeiterweitert (daher chorus), im Sound »volles
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