Der Musikversteher
nicht natürlich, sondern ein Kulturprodukt, das sich erst etwa um 1650 so etabliert hatte. Davor war das Denken in den Modi (s. o.) selbstverständlich. In der Regel aber gibt es in Dur und Moll und in den Modi jeweils ein »tonales Zentrum«, also einen Grund-Klang, auf den sich alle anderen Klänge und Klangverbindungen beziehen. Für dieses Zentrum finden Sie in der Literatur oft die Bezeichnung »Tonika«. Die Skalen, Klänge und Klangverbindungen sind transponierbar, sie können also in alle Tonarten versetzt werden. Planmäßige Übergänge von einer Tonart zur anderen innerhalb eines Stückes werden Modulation genannt.
Kleine Sammlung von beliebten Akkordfolgen und turnarounds aus Rhythm ’n’ Blues, Rock, Soul, Pop, Schlager
Vorbemerkung: Bei den Stufenbezeichnungen für die Akkorde benutze ich das international üblich gewordene System von großen (Dur-Akkorde) und kleinen (Moll-Akkorde) Buchstaben, also I (1. Stufe Dur) oder i (1. Stufe Moll). Eine Folge wie C-Dur – a-Moll – d-Moll – G-Dur hat also die Stufen I – vi – ii – V.
Ich beginne mit einem in der Popmusik sehr verbreiteten Phänomen, das in vielen Harmonielehren noch gar nicht wirklich gewürdigt wurde: mit der Pendel-Harmonik. Was bedeutet das? Zwei Akkorde haben einen gemeinsamen Ton, an dem sie gleichsam »aufgehängt« sind, und dann schwingt das Gebilde hin und her. Das Wunderbare unseres Tonsystems ist, dass es viele unterschiedliche Möglichkeiten dafür gibt.
Sehr beliebt in Moll ist das Pendeln zwischen Molltonika (i) und der VI. Stufe (Dur-Gegenklang), also z. B. in a-Moll zwischen a-Moll und F-Dur. Berühmte Beispiele: Fryderyk Chopins TRAUERMARSCH aus der Klaviersonate b-Moll; The Beatles, ELEANOR RIGBY (vgl. Analyse S. 128); Jan Delay/Udo Lindenberg IM ARSCH, Analyse im II. Teil des Buches, S. 218.
In Moll und Dur möglich ist das Pendeln zwischen Tonika und Subdominante, mit zahlreichen Varianten: beides Dur (C – F), beides Moll (c – f ) = sehr »normal«; Wechsel Dur – Moll (C – f ) schon charakteristischer, besonders mit f m 6 ; am beliebtesten (und sehr Soul-nahe) der Wechsel Moll – Dur (c – F), das »dorische Pendel« i – IV (SUNSHINE von Patrice, 2003)
Das Pendel zwischen I und V, Tonika und Dominante, ist so klischeehaft (und wird im Banalschlager und bei den volkstümlichen Musikanten fast ausschließlich benutzt), dass es gemieden wird. Allerdings gibt es eine farbenreiche Ausnahme: das »mixolydische Pendel«, bei dem die die Tonika Dur ist (z. B. C-Dur) und die v. Stufe Moll (g-Moll)
Von den »abgefahreneren« Möglichkeiten sei wenigstensnoch eine, in Soul und Jazz beliebte (und von da auch in die Popmusik »eingewanderte«) genannt: das »phrygische Pendel« mit Moll-Nonen- oder sogar Moll-Undezimen-Akkorden, pendelnd zwischen vii. und i. Stufe, beispielsweise zwischen d m 9 und e m 7 , wobei der höchste Ton e’ der Punkt ist, an dem das Pendel »hängt«.
»Stube/Küche«, so nennen deutsche U-Musiker den simpelsten Fall von Klangverbindung, die schon erwähnte Reduktion auf I. und V. Stufe, Tonika und Dominante, beispielsweise C-Dur und G-Dur. Damit kommen viele Schlager- und Volksmusikfabrikanten aus. Schon fast luxuriös in diesem Kontext »Stube, Kammer, Küche«, die Kadenz, wenn die IV. Stufe, die Subdominante (F-Dur), zwischen I und V eingeschoben wird. Durch einen Kunstgriff aber werden diese drei Harmonien zu einer typischen Pop-Kadenz: IV und V sind vertauscht – schon klingt das viel individueller und vor allem Blues-näher, auch wenn noch gar keine blue-notes im Spiel sind: I – V – IV – I, das wird gern auch als »turnaround« eingesetzt, als sich wiederholende Klangschleife. Und wenn die Popmusik sophisticated ist, wird vor die subdominantische IV. Stufe noch eine »Subdominante der Subdominante« gesetzt, die »tiefalterierte VII. Stufe« (bVII); in C-Dur ist das B-Dur. Also ist die Folge I (C-Dur) – V (G-Dur) – bVII (B-Dur) – IV (F-Dur) – I (C-Dur), auch als »turnaround« geeignet.
Ein Vor-Verweis: Im Blues- und Jazz-Abschnitt im Kapitel »Musikalische Grenzen und Grenzüberschreitungen« werden einige der »grenzüberschreitenden« Patterns der Harmonik benannt, die also hier verzichtbar sind (S. 95 ff.).
Noch einige beliebte »Changes«: z. B. Tonika – Doppeldominante – Subdominante – Tonika (C – D 7 – F – C), oder Tonika – tiefalterierte VI – tiefalterierte VII – Tonika (C – As – B –
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