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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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im langsamen Satz die Grenzen zwischen originaler Volksmusik und eigener artifizieller Musik überschritten werden, dann muss der Einwand kommen: Das ist doch Haydns eigene KAISERHYMNE (1797), die er hier im langsamen Satz des Quartetts als Variationsthema einsetzt und die unsere deutsche Nationalhymne geworden ist? Ja, und Haydn zitiert dabei, vier Takte lang, ein kroatisches Volkslied, »Vjutro rano« (»Früh am Morgen stehe ich auf«), das er vermutlich schon in seiner Kindheit gehört hatte. Er hat diese Melodie auch in anderen Werken verwendet,so in einer Messe von 1766 und im langsamen Satz seines Trompetenkonzerts. Ist sie nicht schön, diese Grenzüberschreitung? Unsere Nationalhymne, ein kroatisches Volkslied. Europa lebt! Und immer, wenn deutsche Militärkapellen die arme schöne und schlichte Haydn-Melodie (der Inbegriff der »noble simplicité«, der »edlen Einfalt«!) unter Schnädderängdäng begraben, dann sagt uns dieses martialische Getue und Getute nicht »Einigkeit und Recht und Freiheit«, sondern »Deutschland, Deutschland über alles« – und das mit einem kroatischen Volkslied.
    – http://www.youtube.com/watch?v=L_chH88_-A
    Sie können auch das Volkslied hören – allerdings nur in einem grausam dummen Arrangement von Žiga i Bandisti
    – http://www.youtube.com/watch?v=2ric0l2dkjA .
Etikette der Kleiderordnung und des demonstrierten Musikgeschmacks
    Auch wir machen Erfahrungen über uns, indem wir dem »fremden Blick« unserer Gäste unterliegen. Wie komisch, ja wie albern zahlreiche unserer selbstverständlich gewordenen kulturellen Gewohnheiten sind, das macht uns der »fremde Blick« von Außenstehenden bisweilen drastisch deutlich. Wie ritualisiert sind Opern- oder Konzertbesuche? Seit wann und warum gibt es solche Rituale? In Bayreuth, wo selbst Bundeskanzlerinnen mit walkürehaften Reizen nicht geizen, unterwerfen sich Fußballer, Geldadel, Showstars, Politiker bayreuthwillig den Dresscodes und den Ritualen, und sie nehmen, um dabei zu sein, sogar die Unbequemlichkeiten des Bayreuther Gestühls und die Folter der sich zu endlosen Stunden dehnenden Musik Richard Wagners in Kauf.
    Schon bei der Eröffnung des Festspielhauses in Bayreuth im Jahr 1876 gab es einen eklatanten Widerspruch: Der einst steckbrieflich gesuchte ehemalige Revolutionär (Dresden 1849), Richard Wagner, empfing den Geldgeber Kaiser Wilhelm I., derals »Kartätschenprinz« die demokratische Revolution in Dresden hatte zusammenschießen lassen. Mit dem Kaiser kamen Repräsentanten des »Systems«, die ebenfalls zu den Finanziers von Bayreuth gehörten.
    Wie unterscheiden sich nun heute die Rituale Bayreuths oder des Wiener Opernballs von denen des Post-Punk oder des Electro House? Bei all dem reagiert man auf identische Weise, nämlich äußerst empfindlich auf Versuche von Grenzüberschreitungen. Mit der falschen Kleidung, mit der falschen Bemalung – rausgeschmissen wird man allemal, und den falschen Musikgeschmack sollte man besser auch nicht laut artikulieren. Erinnern wir uns an den Orpheus-Mythos: In der Club-Szene hat nicht nur der Dionysos-Kult des Rausches überlebt, sondern auch Cerberus, der Höllenhund. Der achtet als Türsteher am Eingang zu seiner Unterwelt strikt auf Dresscode und Etikette (»du kommst hier net rein«), ist aber keinesfalls durch Gesang zu besänftigen. Orpheus wäre chancenlos. Mods und Rocker stehen sich genau so unversöhnlich gegenüber wie Nadelstreifenträger und Punks. Die Etikette von Gothic ist genau so rigide wie die der Salzburger Festspiele.
    »Klassik« als ein Schlagetot-Begriff hat sich leider durchgesetzt. Gemeint sind aber nur ökonomische Grundlagen der Musikverwertung. Dabei hat die meiste unter diesem Etikett zusammengefasste Musik gar nichts mit »klassisch« zu tun – weder als historischer Begriff (»Weimarer Klassik« in der Germanistik, »Wiener Klassik« mit Haydn, Mozart, Beethoven in der Musikwissenschaft) noch als ästhetischer bzw. Genrebegriff. »Klassisch« ist seit der Antike (»classicus auctor«) ein Künstler bzw. ein Autor, ein Hervorbringer, auch auf anderem, nichtkünstlerischem Gebiete. Er schafft etwas Vorbildliches, etwas in sich Ausgewogenes, trotz aller Verschiedenheit der Mittel und möglicher Kontraste.
    Die Kategorie »Klassik« ist genauso dumm und unzulänglich wie die Abrechnungskategorien der GEMA: »E«rnste Musik und »U«nterhaltungsmusik. Sogenannte »E«-Musik ist mindestensgenau sooft völlig unernst, fröhlich,

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