Der Musikversteher
bedrohliches Heulen konnte die süßen Sehnsuchtsklänge ablösen. Viel später las ich bei den Schriftstellern und Lyrikern des 18. und 19. Jahrhunderts die Beschreibungen der Wirkung von Äolsharfen mit ihren atemberaubenden, sphärisch anmutenden Klängen, und in diesen Beschreibungen fand ich meine Empfindungen von damals wieder.Ein wichtiger Teil dessen, was man – in allen musikalischen Genres! – nüchtern als »Sound-Design« bezeichnen könnte, ist das Ergebnis der Suche der Musiker nach solchen Zauberklängen. Instrumente wie die Celesta mit ihren »himmlischen« Tönen, das Glockenspiel, die Harfe, Klangstäbe, die Gongs, TamTams des (indonesischen) Gamelan-Orchesters liefern drastische Beispiele, ebenso Orgeln (sie entstanden schon in der vorchristlichen Antike). Die reichen Klangfarbspektren des »impressionistischen« Orchesters (Claude Debussy, Maurice Ravel) lieferten ein Zauberklang-Reservoir für die Filmmusik.
Sehr wichtig für die gesamte Musik des 20./21. Jahrhunderts wurde dann – in »E« wie »U« – die rasante Entwicklung der elektronischen und synthetischen Instrumente. Das Theremin aus den frühen zwanziger Jahren (benannt nach seinem russischen Erfinder Lew Termen) als eines der ersten hat noch heute den Zauber des Unerhörten: Töne werden mit quasi magischen Hand- und Armbewegungen gleichsam »aus der Luft« elektromagnetischer Felder gezaubert. Mit dem »Mixtur-Trautonium« (1929 an der Berliner Musikhochschule entwickelt) »zauberte« Oskar Sala noch in den sechziger Jahren den unglaublichen Soundtrack zu Alfred Hitchcocks Die Vögel . Der Synthesizer machte dann aus dem Magischen die nüchterne Handelsware im Zaubershop.
6. Musikalische Grenzen und Grenzüberschreitungen
Mit Anmerkungen zu Volksmusik und Kunstmusik, zu Etiketten der musikalischen Kleiderordnungen, zu Blues und Jazz, zur Filmmusik
Kurzanalysen: J. Haydn KAISERHYMNE; Queen BOHEMIAN RHAPSODY; György Ligeti HUNGARIAN ROCK MUSIC; George Gershwin I GOT RHYTHM; Joseph Cosma AUTUMN LEAVES; Filmmusiken bei Hitchcock und Kubrick
Zu allen Zeiten, in allen Genres der Musik wurden und werden Grenzen überschritten: von Komponierenden, von Interpreten, in musikalischen Gattungen, von musikalischen Institutionen, in der Kulturpolitik, in der Politik. Neugierde? Gute Nachbarschaft? Tabuverletzung? Tourismus? Retourismus? Kriegerische Raubzüge? Wie sind überhaupt solche »Grenzen« definiert? Welche Bedeutungen haben sie? Sind sie »nur« ästhetischer Natur?
Jede Grenzüberschreitung, solange sie nicht gewaltsam geschieht, ist sinnvoll. Reisen bildet bekanntlich, und sogar Eroberungsfeldzüge bewirken letztendlich eine merkwürdige Art von Kulturaustausch, wobei oft nicht klar ist, ob »Sieger« oder »Besiegte« die längerfristige kulturelle Hegemonie davontragen. Die Römer haben die Griechen militärisch besiegt, wurden aber gleichzeitig von diesen ihren neuen Sklaven kulturell völlig dominiert. Hegels »Herr-Knecht-Dialektik« aus der »Phänomenologie des Geistes« ist, mit erheblichem Erkenntnisgewinn, auch auf kulturelle und künstlerische Verhältnisse anwendbar.
Ob nun argloser oder arglistiger Reisender: Die Erfahrung des »Anderen« schafft auf der einen Seite größeren Reichtum – quantitativ wie in der Qualität des Erlebens und Begreifens; andererseits ermöglicht jede neue Erfahrung ebenso einen schärferenund differenzierteren Blick auf sich selbst – wenn man bereit ist, ein solches Potential auch selbstkritisch zu nützen.
»Verreisen« kann man nicht nur geografisch, sondern auch historisch und soziologisch. Igor Strawinsky eignete sich 1917 den gerade nach Europa gelangten Ragtime an. Wenn er in seiner neoklassizistischen Phase »Musik über Musik« komponierte, dann eignete er sich Werke und stilistische Merkmale aus der barocken und der vorklassisch-klassisch-romantischen Musik an, aber all das verfremdet er; er zerrt es in seine Gegenwart, er macht es zu etwas Eigenem, ob es nun Pergolesi, Bach oder Tschaikowsky ist. Das durfte später auch, in den vierziger Jahren in den USA im Exil, der Jazz sein.
Die musikalische Postmoderne der späten sechziger bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts schwankt zwischen lustvollem Aufbrechen der starren Tabus einer abstrakten Moderne und der Beliebigkeit der »Retouristik« und der vergleichgültigenden Polystilistik. Das gilt auch für weite Teile der avantgardistischen Popmusik dieser Zeit. »Erlaubt« ist jetzt alles – dieser immense
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