Der Musikversteher
mit der bangen Frage »Is It Rhythm?« angelehnt. Als Strawinsky zwischen 1909 und 1913 seine berühmten Ballette für Diaghilews Ballets Russes in Paris komponierte, liebten die Franzosen den wilden Russen mit der rhythmischen Urgewalt und den knirschenden und kreischenden Dissonanzen über alles. Alle Legenden über den Uraufführungsskandal von 1913, die behaupten, Strawinskys Musik zu LE SACRE DU PRINTEMPS habe den Skandal ausgelöst, sind falsch. Das Publikum rächte sich am Choreografen Nijinskij; der hatte die Pariser kurz zuvor bei Claude Debussys PRÉLUDE À L’APRÈS-MIDI D’UN FAUNE mit einer inszenierten Selbstbefriedigung auf offener Bühne geschockt. Das also ist keine Errungenschaft des Regietheaters von heute.
»Bilder aus dem heidnischen Russland«, so lautet der Untertitel des Balletts; es geht um rituelle Beschwörungen der Erde durch schamanische Priester, die das Wiedererwachen der Naturherbeiführen wollen, und um brutale Kampfspiele der Jugendlichen. Letztendlich wird ein junges Mädchen auserwählt, das der Erde geopfert wird, indem es sich in Trance und zu Tode tanzt. Die Handlung orientiert sich übrigens ganz genau an ethnologischen Forschungen der Zeit um 1910. Der Abschnitt Die Auguren des Frühlings entfaltet den berühmten, stampfenden Sacre-Akkord mit »unvorherhörbaren« asymmetrischen Akzenten und der uralten originalen russischen Volksmelodie. Und erst, wenn diese Melodie erklingt, haben Sie die Chance, einen Takt zu identifizieren: Die stampfenden Achtelnoten schließen sich zu einem 2/4 zusammen.
– http://www.youtube.com/watch?v=kRY7EpxL4mc
Viele der Jugendlichen des Tanzprojekts der Philharmoniker hatten übrigens naturgemäß am Anfang große Schwierigkeiten mit der Musik, aber im Laufe der Zeit wurden sie (nicht alle!) regelrecht süchtig danach. Im Kapitel »Kopf und Bauch« werde ich noch einmal auf den Schlusstanz dieses Jahrhundertwerks eingehen.
Und weil ich das so sehr mag, möchte ich mit einem der schönsten Stücke von QUEEN aufhören; BICYCLE RACE (1978), der Liebeserklärung ans Fahrrad, mit einigen doppelten Böden. (Die Tonfolge von »I want to ride my bicycle« ist offensichtlich eine Bach-Anspielung: Sie ist zu hören zu Beginn der Kantate BWV 100 WAS GOTT TUT, DAS IST WOHLGETAN. Dank an Dirk Weißbach aus Leipzig, »alter Thomaner der achtziger Jahre und Queen-Fan«!) Es gibt nicht nur Taktwechsel, sondern wir werden mit abrupten Schnitttechniken konfrontiert, die deutlich vom Film inspiriert sind, und es gibt gewaltige Tempo-Verschiebungen, wenn die raschen Viertelnoten plötzlich zu Triolen-Bestandteilen eines langsamen Blues werden – und dann zurück.
– http://www.youtube.com/watch?v=GugsCdLHm-Q (1’02 – 1’42’’)
Nach einem großen verlangsamenden ritardando erwartet man als Eruption ein riesiges fortissimo, und was kommt wirklich? Ein ironisches, gar niedliches Konzert der Fahrradklingeln. (1’38’’ – 2’)
Intermezzo 1:
Himmlische Töne auf Norderney
Elf Jahre alt war ich, in der Quinta des Gymnasiums, als wir eine Klassenreise auf die Nordseeinsel Norderney machten – in den späten fünfziger Jahren etwas Außergewöhnliches. Im nüchternen Schlafsaal wachte ich eines Morgens gegen halb fünf auf, geweckt von unbeschreiblich schönen, unglaublich süßen Tönen, die sich ineinander verschlangen, einzeln anschwollen, wieder abebbten. Sie brachten Harmonien hervor, wie ich sie noch nie gehört hatte und dann auch lange nicht mehr hören sollte. In »Schwabs Sagen des Klassischen Altertums« hatte ich von den betörenden Gesängen der Sirenen (welcher Idiot mag den Heul-Warn-Geräten des 20. Jahrhunderts diesen Namen verpasst haben?) erfahren, die vorbeifahrende Seeleute ins Verderben lockten. Ich hatte gelesen, wie sich der listenreiche Odysseus von seinen Männern an den Mast des Schiffes fesseln ließ, um ungestraft die Zauberklänge genießen zu können. Die Mannschaft aber musste sich die Ohren mit Pech verkleben. Ich hatte Angst, zum Fenster zu gehen, gleichzeitig zogen mich diese wogenden Töne magisch an. Ich ging und ich hörte und ich sah, wie der Nordseewind in den (damals ja oberirdisch verlaufenden) Telefondrähten so zauberisch sang, dass ich traurig und beseelt zugleich war.
Der Wind verfing sich als Magier der Töne aber wohl nicht allein in den Drähten und spannte und entspannte sie, sondern auch in anderen zauberischen Tonerzeugern, Hohlräumen, brachte allerlei Gegenstände in klingende Schwingungen:
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