Der Musikversteher
tänzerisch, unterhaltsam wie die »U«-Musik, und die »U«-Musik kann so ernst sein, aber auch so langweilen, dass sämtlicher Unterhaltungsanspruch zum Teufel geht. Aber »E« wird, weil es mit wirklich »E«rheblich höherem Arbeitsaufwand verbunden ist, im Punkte-Abrechnungs-System der GEMA auch »E«rheblich höher angesiedelt als »U«; und auch innerhalb von »E« gibt es berechtigte Unterschiede: Eine große Partitur für Symphonieorchester von dreißig Minuten Dauer, an der man bisweilen ein halbes Jahr arbeitet, muss völlig anders bewertet werden als ein bescheidenes Klavierlied oder ein Popsong, der drei Minuten dauert.
Ökonomische und Marketingerwägungen nicht nur im Musikbereich sind eng mit »Erfolg« verwoben. Woran lässt sich »Erfolg« von jungen Künstlerinnen und Künstlern messen, gleich, ob im »E«- oder im »U«-Sektor? Messbar ist »Erfolg« zum Beispiel an Preisen und an Auszeichnungen in Wettbewerben. Da gibt es allerdings auch einen spöttischen Musikerspruch: Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen. Nicht jede Jury hat objektivierbare Kriterien.
Messbar ist »Erfolg« sicherlich an Ehrungen, an Rezensionen, an Publikumsreaktionen. Und, ganz einfach, an der Tatsache, dass sich nicht nur Auftrittsangebote häufen, sondern dass sich auch renommierte CD-Label bereit erklären, das hohe ökonomische Risiko von Einspielungen zu wagen.
Nun sind aber Karrieren grundsätzlich von zwei Kriterien abhängig: auf der einen Seite von den autonomen künstlerischen Erwägungen; auf der anderen Seite von den – absolut notwendigen! – Marketing-Erwägungen.
Was hat die autonome, die selbstbestimmte, die hehre Kunst mit banalen Marktlücken zu tun? Seit dem 18. Jahrhundert, in dem sich auch in der Musik das bürgerliche Marktprinzip durchsetzte, sehr viel. Komponisten mussten ihre Unverwechselbarkeit demonstrieren; sie und auch die ausübenden Künstler, sei es im Gesang oder in den instrumentalen Fächern, hatten und haben nur dann Erfolg, wenn sie einerseits wirklich sehr gut ihrMetier beherrschten, wenn sie sich aber andererseits als Original-Genies präsentierten, wenn sie mit allen Mitteln Aufmerksamkeit auf sich lenkten – auch durchs (neudeutsch) Outfit, durch Selbstinszenierung und sogar durch Marotten.
Niccolo Paganini, der Teufelsgeiger zu Beginn des 19. Jahrhunderts, setzte auf die Inszenierung des Dämonischen; Heinrich Heine beschrieb ihn als Vampir, der allerdings nicht das Blut aus den Körpern, sondern das Geld aus den Taschen saugte.
Franz Liszt Superstar (Lisztomania) pflegte als Klaviervirtuose die Flügel spektakulär zu erschlagen. Wenn pro Abend zwei von ihnen reparaturbedürftig auf der Strecke blieben, war das Publikum zufrieden.
Das alles ist also keine Errungenschaft der Popmusik unserer Gegenwart.
Braucht der Künstler mit den großen Ambitionen also ein permanentes personality coaching? Seine künstlerische Authentizität hat er sich, wenn es gut ging, in einem langen Prozess bis hin zu einer ersten Perfektion erarbeitet: ganz individuell als unverwechselbare Künstlerpersönlichkeit, und in der Sache als ein Interpret, der sich auch umfassend mit der Musik und ihren Voraussetzungen auseinandersetzt, die er interpretiert.
Wenn musikalische Überzeugungskraft, analytische Intelligenz, künstlerische Verantwortlichkeit gegenüber den Kompositionen und gegenüber den Komponisten zusammenkommen – wunderbar. Aber es gehört selbstverständlich immer die technisch-virtuose Perfektion dazu, und die darf gern einen Hauch von Zirkus haben und von verblüffendem Zauberkunststück. Das darf und soll doch auch Spaß machen, in allen Genres der Musik. Und ohne technische Perfektion lässt sich eine tiefe interpretatorische Erkenntnis gar nicht in überzeugende sinnliche Klanglichkeit verwandeln.
Wenn aber der sportliche Aspekt »schneller, höher, weiter« dominiert, dann droht Musik in mechanischem Selbstzweck und in virtuoser Leere zu versinken. Wenn es wirklich nur noch darum geht, sich als »Häuptling flinker Finger« darzustellen,dann kann man auch Fryderyk Chopins MINUTENWALZER in 45 Sekunden spielen; man versteht als Hörer nichts mehr von der Musik, aber die Tasten rauchen. Und so kann aus Lang Lang kurz kurz werden. Es gibt halt Stars, die sind die personifizierte Marktlücke, und nicht viel mehr.
Lang Lang, der chinesische »Wunderpianist«, ist zweifellos ein großes Showtalent und technisch auf höchstem Niveau, aber an fast jeder größeren deutschen
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