Der Musikversteher
Zuwachs an Möglichkeiten kann als Chance zur Vielfalt genutzt werden, er kann aber auch zu einem qualitativ fragwürdigen Sammelsurium führen.
Besonders von Tabus umstellt sind Grenzüberschreitungen zwischen solchen Genres, die auch durch soziale Schranken markiert sind. Das gilt für zahlreiche Ausprägungen von Popularmusik, Volksmusik, Bauernmusik, von Leibeigenenmusik, Sklavenmusik. Dazu später mehr, doch sei jetzt schon auf das paradoxe Faktum verwiesen, dass ausgerechnet die authentischste Musikform der amerikanischen schwarzen Sklaven, der Blues, zum erfolgreichsten und dauerhaftesten musikalischen Phänomen des gesamten 20. Jahrhunderts wurde. Aber in einem der ersten Tonfilme der Geschichte, »The Jazz Singer« von 1927, spielte Al Jolson einen jüdischen Entertainer (Tabu), der einen schwarzen Musiker darstellt (potenziertes Tabu), der aber aus rassistischen Gründen nicht von einem Schwarzen gespielt werden durfte. Also malte man ihn schwarz an.
Volksmusik und Kunstmusik
Auch Melodien, Volkstänze, Bauernlieder und Volkslieder wandern, sie überschreiten Grenzen, und indem sie in anderen Sprachen und anderen gesellschaftlichen Kontexten gesungen werden, verändern sie sich. Béla Bartók, der ungarische Komponist und Ethnomusikologe, schrieb 1942 im USA-Exil einen Essay über »Rassenreinheit« in der Musik. Man denkt: Nanu, ausgerechnet Bartók, der Kämpfer gegen bornierten Nationalismus und Faschismus? Er setzte sich aber nur deshalb mit den Nazitheorien auseinander, um sie ad absurdum zu führen, und er resümierte: »Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker ergeben sich eine gewaltige Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen. Die ›rassische Unreinheit‹ ist entschieden zuträglich.« Rassenreinheit hingegen »bedeutet Niedergang«. 18
Jetzt ein wenig Grundsätzliches zum Phänomen des »fremden Blicks«, der bei jeder Grenzüberschreitung eine wichtige Rolle spielt: Der »fremde Blick«, sofern er sich nicht wirklich auf seinen Gegenstand einlassen will, droht in seiner eigenen Intentionalität befangen zu bleiben: Man sieht bzw. hört, was man sehen oder hören will. Es soll Reisende geben, die auch in der Südsee nur den exotischen Reiz von Eisbein mit Sauerkraut suchen – und ihn finden.
Der »fremde Blick« auf andere Kulturen ist verdächtig geworden. Er gilt als politisch nicht korrekt. Eurozentrismus und Kulturimperialismus stehen schroff gegen das, was gern mit dem Begriff der »Authentizität« erfasst und gerühmt wird. Aber was ist dieses sogenannte »Authentische«? Ist es nicht auch das Resultat unseres »fremden Blicks«? In der Regel ist doch das, was uns so authentisch scheint, selbst ein Bündel von widersprüchlichsten Elementen, von sozialen Gebundenheiten, von unterschiedlichsten historischen Ursprüngen.
Vermeintlich paradiesisch-unschuldig-authentische Zuständeund Kulturprodukte sind – das kann als gesichert gelten – Projektionen des »fremden Blicks«. Der fremde Blick auf den biblischen »Sündenfall Erkenntnis« im paradiesisch-authentischen Urzustand kann uns aber auch verborgene Wahrheiten enthüllen, zum Beispiel die, dass die daraus entstandenen Komplikationen problemlos hätten vermieden werden können: Was wäre geschehen, wenn Adam und Eva Chinesen gewesen wären? Sie hätten die Schlange gegessen.
Doch bietet der »fremde Blick« – endlich unbelastet von handfesten Interessen und ideologischen Vorurteilen – nicht gerade die Chance, unter wissenschaftlichen Prämissen neue Erkenntnisse zu formulieren? Die Vielfalt der Musikkulturen resultiert selbstverständlich auch daraus, dass sie eng verflochten sind mit europäischen und nordamerikanischen Einflüssen.
Das ist jetzt kein Plädoyer für Kulturimperialismus; der hat das nicht nötig, denn er existiert durch die globalisierten ökonomischen Zwänge ja quasi automatisch. Unser oben erwähnter Südseereisender wird also dort nicht nur Eisbein mit Sauerkraut finden (oder, zeitgemäßer, Burger mit Cola), sondern er wird auf der Suche nach authentischem heimischem Liedgut unweigerlich auf Elton John und Britney Spears treffen. Und »rollende Steine« sind in der Regel nicht mehr Klangwerkzeuge einer paradiesisch-authentisch-urtümlichen Musik. Die Stones-Zeiten haben sich geändert.
Wenn ich jetzt behaupte, dass bei Joseph Haydn in einem Originalwerk, dem Streichquartett C-Dur op. 76,3,
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