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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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(= Akkordfolgen als sich wiederholende »Schleifen«), die ja auch auf die Rock- und die Popmusik einigen Einfluss hatten: I GOT RHYTHM von George Gershwin (1930) ist als pentatonische Melodie erfunden (in C-Dur: g-a-c 1 -d 1 -e 1 ). Die ersten 4 Töne g-a-c 1 -d 1 sind, ebenso wie die Töne 5 bis 8 (= 1 bis 4 rückläufig, also d 1 -c 1 -a-g) folgendermaßen harmonisiert: Tonika (I. Stufe, C-Dur), vi. Stufe (a-Moll, Tonikaparallele), Quintfall zur ii. Stufe (d-Moll, Subdominantparallele), Quintfall zur V. Stufe (G-Dur, Dominante), alle mit den entsprechenden Reizdissonanzen, im Turnaround Quintfall zurück zur Tonika C-Dur etc. Dieses viergliedrige Modell (wir haben es schon in der BOHEMIAN RHAPSODY kennengelernt, dort allerdings auf viele Takte ausgedehnt) mit den Stationen 1, 6, 2, 5 heißt unter Jazzern folgerichtig Sechzehnhundertfünfundzwanzig – Jahreszahlen lassen sich sehr leicht merken. Dass in Gershwins Komposition noch andere Varianten vorkommen, ist selbstverständlich. Aber: 1–6–2–5oder auch nur 6 –2–5 ist im Jazz, Rock und Pop (ich muss dazu sagen: auch bei Bach, Mozart, Beethoven …) so verbreitet, dass man das gern »die Jazz-Kadenz« nennt, auch wenn es historisch falsch ist.
    – http://www.youtube.com/watch?v=vIpNepgmCQA&feature=related (Gershwin selbst spielt in Des-Dur!; das Modell erklingt nach der Intro ab 06’’).

    AUTUMN LEAVES, ein zweiter Standard-»Klassiker«, stammt vom ungarisch-französischen Komponisten Joseph Cosma, heißt im Original Les feuilles mortes (1945) und steht in Moll. Das Besondere hier ist, dass alle Töne der natürlichen (äolischen) Mollskala als Stufen einer vollständigen »Quintfall-Sequenz« erklingen, also z. B. in a-Moll, mit Septimen:
    I (a-Moll 7) – iv (d-Moll 7) – VII (G-Dur 7) – III (C-Dur maj7) – VI (F-Dur maj7) – ii (h-Halbvermindert) – V (E-Dur 7) – i (a-Moll 7)
    Um keine Verwirrung aufkommen zu lassen, sei noch einmal festgestellt: Die meisten internationalen Harmonielehren bezeichnen die Stufen mit kleiner Terz über dem Basiston mit Kleinbuchstaben, die mit Durterz mit den »normalen« römischen Ziffern. Bis in die Gegenwart bedienen sich nicht nur französische Chansons mit melancholischer Aussage dieses Turnarounds in Moll, der selbstverständlich auch schon bei Rameauund Bach (und noch früher) vorkommt. Vollständige Quintfall-Sequenzen gibt es selbstverständlich auch in Dur-Tonarten.
    – http://www.youtube.com/watch?v=JWfsp8kwJto . Yves Montand (Version nach es-Moll transponiert)

    Jazz-typisch aber ist nun, dass alle Interpreten solcher Standards diesen Vorgaben ein ganz eigenes Gesicht geben: Sie werden »grenzüberschreitend« individualisiert, variiert, reharmonisiert, verfremdet, sie sind Grundlage für Improvisationen, in der Gruppe wie solistisch. Das Spannungsverhältnis von Standardisierung und Individualisierung ist das Charakteristikum des Jazz, und auch die Spielarten des Jazz-Rock knüpfen daran an.
Anmerkungen zur Filmmusik
    Kaum ein anderes musikalisches Genre »schreit« sozusagen naturwüchsig so sehr nach Grenzüberschreitungen wie die Filmmusik. Hier muss, für ein spannungsvolles Mit- und Gegeneinander zum Bild und zur Szene, »alles, was Töne hat« aufgefahren werden, vom verstimmten Stummfilmklavier bis zum großen Orchester, von exotischen Musikinstrumenten und ebenso exotischen Sprech- und Singweisen über Volks- und Popmusik und Elektroakustik bis zur »E-Avantgarde«, vom Klang und Geräusch bis zum Kinderlied.
    Und die Musikarten (und die Töne, die Klänge, die Geräusche) können – als erlebbare, sogar sichtbare Schallquelle – ein Teil der Szene sein (jemand singt, ein Radio dudelt, ein Atomkraftwerk fliegt rhythmisch in die Luft), sie können aber ebenso Kommentar oder »Gefühlsuntermalung« von außen sein.
    Da übrigens scheiden sich die Geister, auch unter Regisseuren. Puristen lehnen diese (für sie zu dominante) Rolle der Musik ab. Da gibt es die schöne Hitchcock-Anekdote, seinen Anti-Nazi-Film Lifeboat von 1944 betreffend: Auf Meister Alfreds süffisante Frage »Wo kommt denn mitten auf dem Ozean das Orchester her?« soll es die wunderbar kluge Gegenfrage von Hugo Friedhofer, dem Komponisten, gegeben haben: »Und wo kommt mitten auf dem Ozean in einem kleinen Rettungsboot das ganze Film-Equipment her, mit Dutzenden Scheinwerfern und Kameras und Maske und Requisite und, und und …« Die absolute »Künstlichkeit« des überhöhenden

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