Der Musikversteher
Illusionstheaters »Film« kann mit ihren nichtrealistisch-naturalistischen Mitteln sehr viel mehr Wahrheit und Hintergründigkeit vermitteln als eine vermeintliche naturalistische Wirklichkeits-Abbildung: Die ist – entgegen ihrer eigenen Zielsetzung – immer auch schon eine »künstliche« Interpretation von »Wirklichkeit«.
Den Film- und Fernsehkomponisten sollte die gesamte stilistische Vielfalt fast aller Musikkulturen dieser Erde zur Verfügungstehen – und wenn es nur die Klischees dieser Musikkulturen sind. Wir kennen das aus so mancher miesen Film- und Fernsehmusik: Der Eiffelturm wird sichtbar – es erklingt das unvermeidliche Musette-Akkordeon; Schwenk nach Hong Kong – pentatonische Quart- und Quintparallelen im einfältig hüpfenden Zweiertakt sind garantiert, sozusagen die musikalischen Schlitzaugen, wobei den Musikfabrikanten völlig wurscht ist, ob es wirklich Hong Kong, Tokio oder Seoul ist; Indien – die unvermeidliche Sitar exotisiert vor sich hin; die Schweiz bietet ihre Alphörner, garniert von Kuhglocken, die ins Edelweiß fallen. Was mag uns nur zu Wien einfallen? Kairo? Zur Prärie im Wilden Westen? Schweine im Weltall (wobei Weltallmusik zum ganz eigenständigen Unter-Genre der Filmmusik mutiert ist)?
Was, wenn ein abgefeimter und kluger Komponist Klischees doppelt konnotiert und uns kritisch ins Leere laufen lässt, um Klischees als Klischees deutlich werden zu lassen? Wir sehen beispielsweise eine kriegerische Soldateska, marschierend, marodierend, und die wird kommentiert mit sanft-melancholischem Streichquartett oder gar einem traurigen Kinderlied, von einer einsamen Stimme gesungen – da werden Gefühle aktiviert, die gleichzeitig Erkenntnis vermitteln: Nachdenken über das, was die Soldateska anrichtet, Mitleid, Empathie mit den möglichen Opfern.
Klischees, »Automatisierte Assoziationen« werden sehr gern auch über Nationalhymnen aktiviert. Wenn in englischsprachigen oder französischen Filmen über den Zweiten Weltkrieg die deutschen Nazi-Aggressoren ihr akustisches Signet bekommen (bis zum heutigen Tag), dann ist das in der Regel das martialisch mit orchestralem Blech gepanzerte Deutschlandlied . Wir heutigen deutschen Hörer (bis auf wenige Unbelehrbare ja durch die dritte Strophe sozialisiert) mögen das übertrieben finden, aber die historische Wahrheit ist auf der Seite der Filmkomponisten: Die arme schöne Melodie von Joseph Haydn ist, in Verbund mit Hoffmann von Fallerlebens »erster Strophe«, die Nazi-Hymnegewesen. Zusammen mit dem Horst-Wessel-Lied hat dieses »Deutschland, Deutschland über alles« die Welt in Brand gesetzt.
Die Filmmusik hat ihre Wurzeln in allen Arten von szenischer Musik aus früheren Jahrhunderten, primär also in der Gattung »Oper«. Bevor die Revolution des Tonfilms Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts kam, saßen, wie in den Opernhäusern, große Orchester in den großen Filmpalästen in den Gräben vor der Leinwand und kommentierten das Geschehen mit differenziert-bunten Klängen. Im kleinen Kintopp nebenan versuchte der Stummfilmpianist, das Rattern des Projektors zu übertönen.
»Untermalung«, das ist eine Grundfunktion von Filmmusik, also: Verdoppelung von Gefühlen, auch lenkendes »Vorfühlen« von Gefühlen der Zuschauer. Das Operieren mit Klischees, mit automatisierten Assoziationen ist ein wesentliches Mittel dieser Funktion. Das geht so weit, dass die meisten Rezipienten, also die sehend Hörenden, Filmmusik gar nicht mehr bewusst als eigene Kategorie wahrnehmen, sondern sie, sozusagen osmotisch, »mitleben«. Ein schlicht »unter Musik gesetzter« Tatort wird sicherlich so erlebt.
Musik kann aber (und sollte, auch im Tatort ) weit darüber hinausgehen und dem Bild, der Szene eine substantielle eigene Ebene hinzufügen: Sie hat dann kontrapunktische Funktion. Die Musik kann uns dann vermitteln oder zumindest ahnen lassen, was sich hinter der Oberfläche des Bildes verbirgt. Das ist in Hitchcocks Psycho (1960) mit der Musik von Bernard Herrmann genial gelöst. Auch zu scheinbar harmlosen Szenen im ersten Drittel des Films ist die Musik nervös, unruhig-getrieben, auch ängstlich – überall lauert die Katastrophe, wir hören sie und wir ahnen sie, auch wenn wir sie nicht sehen.
– http://www.youtube.com/watch?v=YVi6ZYzD_Gc
Das alles wird mit einem eigentlich ganz konventionellen Streichorchester gemacht – auch das quasielektronische Kreischen, diese existenziellen Urschreie in der mörderischen
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