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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Swift HEY STEPHEN; Lady Gaga BAD ROMANCE
    Wir tendieren zum politisch korrekten Quotendenken. Das gilt (dafür ein durchaus nicht ironisches »Danke, liebe Frauenbewegung«) auch in der Musik, und dabei ist es gleichgültig, wie dumm antiemanzipatorisch sich so manches Popsternchen gibt oder so manche Lady der Countrymusic oder so manche Schlagersängerin. Dem mythologischen Orpheus kann eine zwar ebenfalls legendäre, dafür aber reale Frau der griechischen Antike zur Seite gestellt werden: die Dichterin und Musikerin Sappho von der Insel Lesbos. Ob sie auch »Komponistin« war, wissen wir nicht, aber wegen der selbstverständlichen Einheit von Sprache und Musik in dieser Kultur ist das sehr wahrscheinlich. Um 600 v. u. Z. hatte sie Schülerinnen, denen sie Unterricht in Poesie, Musik, Gesang und Tanz gab. Die Begriffe »sapphisch« und auch »lesbisch« haben hier ihren Ursprung, wobei aber z. B. eine »sapphische Ode« eine von ihr entwickelte (bzw. bevorzugte) Form der Lyrik bezeichnet, nicht etwa eine lesbische Neigung.
    Sappho beeindruckte in ihrer Poesie mit ihrem Bilderreichtum, dem Reichtum der Empfindungen und mit ihren sprachlichen Raffinessen sehr viele Dichterinnen und Dichter der nachfolgenden Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende. Hatten wir bisher für die Musik die Polarität von Apollon und Dionysos ins Zentrum gerückt, so ist diese Dichterin/Musikerin Aphrodite verpflichtet, der Göttin der Liebe. Schade, dass wir zwar Sapphos Texte kennen, ihre Musik aber nicht – es gab (noch) keine Notenschrift, sie aufzuzeichnen. Doch die schöne Mischungaus Kunstvollem und Popularem, die ihre Texte auszeichnet, dürfen wir getrost auch für die Musik annehmen.
    Die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert), als Heilige verehrt, eine frauenklösterliche Synthese aus Sängerin und Songwriterin mit theologischer, mystischer und medizinischer Ausbildung, wird seit einiger Zeit sozusagen als feministische, aber auch »grüne« und spirituelle Schutzheilige gehandelt. Sie gilt unter Eingeweihten als eine ins Christliche transferierte Sappho. Allerdings blieb ihr, im Gegensatz zu Sappho, die Öffentlichkeit, die sie mit ihren religiösen, medizinischen und politischen Schriften erreichte, für ihre Kunst weitgehend verwehrt. Und ihre (durch die noch mangelhafte Notenschrift nur unzulänglich aufgezeichnete) geistliche Musik muss in weiten Teilen rekonstruiert werden. Aber es gibt CDs, und wir können solche Rekonstruktionsversuche hören. In geglückten Einzelfällen ergeben sich schöne Ergänzungen von poetisch-spirituellen Texten und Melodien in schlichter und schöner Einstimmigkeit.
    Frauen können nicht komponieren . Bis heute ist diese Einschätzung verbreitet. Malen – na ja. Literatur, Lyrik – schon eher. Komposition – nein. Das hält sich hartnäckig, wie in der Mathematik (und dass Lise Meitner für den mathematisch unbegabteren Nobelpreisträger Otto Hahn die Berechnungen machte, ändert nichts an dem Vorurteil). Die abstrakte Statistik scheint diesem Vorurteil recht zu geben. Aber die Statistik fragt nicht nach Ursachen, sie erklärt nichts, sondern sie muss interpretiert werden. Sie war sogar das Resultat von bewussten Geschichtsfälschungen: In den Lexika des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verschwanden nach und nach die – in ihren Zeiten hochberühmten! – Malerinnen wie Artemisia Gentileschi in Florenz oder Angelika Kauffmann in Rom (primär, um bei ihr Unterricht zu bekommen, unternahm Goethe seine berühmte italienische Reise!), und es verschwanden – ebenfalls in ihren Zeiten hochberühmte – Komponistinnen wie Francesca Caccini (Florenz) und Barbara Strozzi (Venedig). Sie entstammtenin der Regel Künstlerfamilien und hatten so die Chance, ihr Begabungs-Potenzial und ihre handwerklichen Fähigkeiten zu entfalten. 19
    Zugleich gab das gesellschaftliche Umfeld in Teilen Italiens im 17. und 18. Jahrhundert die Möglichkeit, sich auch in der Öffentlichkeit zu positionieren – besonders in Venedig.
    Aus dem 19. Jahrhundert seien wenigstens zwei starke Künstlerinnen genannt, Clara Schumann, geborene Wieck (die Älteren unter uns kennen sie noch vom guten alten bläulichen 100-DM-Schein, auch von einer Briefmarke) und Fanny Hensel, geborene Mendelssohn – nach ihr wurden Straßen, Siedlungen und Schulen benannt.
    Fanny, ältere Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, war höchstbegabt wie ihr Bruder, genoss eine identische musikalische Ausbildung,

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