Der Musikversteher
»dirty notes«, sängerische und instrumentale Artikulationsweisen und Phrasierungen, ternär-»swingende« Teilung des Beats, des Grundpulses. Ragtime und Cakewalk mit ihren binärgeraden Teilungen des Beats haben, auch in ihren formalen Strukturen und ihren Harmonieverläufen, mit Blues im Prinzip nichts zu tun (in einem Kapitel wie diesem mit der Überschrift »Grenzüberschreitungen« muss ich allerdings zugeben, dass es auch hier vereinzelt solche mit durchaus originellen Resultatengegeben hat: Das »klassische zwölftaktige Blues-Schema« konnte auf verschiedene Weisen Jazz-kompatibler gemacht werden).
Dieses zwölftaktige »klassische« Blues-Schema mit den typischen drei Grundakkorden, die aber nicht in den harmonischen Funktionen/Bedeutungen eingesetzt werden, wie sie in der »weißen« Musik vorgegeben sind, das ist ein Bündel von immer noch auch in Lehrbüchern verbreiteten Missverständnissen. Die Akkorde werden gern als »Dominant-Sept-Akkorde« klassifiziert, weil sie so klingen wie diese in der europäischen Musik seit etwa 350 Jahren gebräuchlichen Akkorde. Sie werden anders gebraucht, sie haben andere Funktionen. Die »klassische Dominante« ist ein auflösungsbedürftiger, dissonanter Akkord, der in eine folgende »Tonika« geführt wird. Der Bass macht dabei den Schritt eines Quint-Intervalls abwärts, und die Septime als dissonierender Ton wird abwärts in den entsprechenden konsonanten Terz-Ton einer Tonika »aufgelöst«. Im Blues ist die Septime aber eine Blue Note, eine charakteristische Farbe, die zu jedem der drei Akkorde gehört, und die nicht als Dissonanz behandelt werden muss. Ein Blues endet in der Regel mit einer I. Stufe mit der Farbe einer kleinen Septime über dem Grundton (= »mixolydischer« Akkord). Schon die simple Tatsache, dass die V. Stufe, die Dominante, im 12-taktigen Blues-Schema nicht – wie in der europäischen Musik – in die Tonika, sondern in die IV. Stufe geführt wird, zeigt, dass die Stufen I, IV und V im Blues nicht mit den »Funktionen« Tonika, Subdominante und Dominante bezeichnet werden sollten, weil sie diese Bedeutungen in ihrem Kontext nicht haben.
Das zwölftaktige Blues-Schema mit seinen Varianten kann auf eine idealtypische »Grundform« zurückgeführt werden:
Ist ein deutlicher »Turnaround-Effekt« beabsichtigt, wird im 12. Takt die V 7 bevorzugt. Als Blue Notes erklingen bevorzugt:1. Die kleine Septime (bei einem Blues in C: b über c); 2. die Moll-Terz (gleichzeitig mit der Dur-Terz, also es über e); 3. die verminderte Quinte (ges). Die Gleichzeitigkeit eines »Normaltons« (in C-Dur also die Terz e und die Quinte g) und ihrer Tiefer-Verfärbung zu es und ges ist ein wichtiges Element des typischen »Blues-Feelings«. Solche Phänomene mit der Assoziation »Trauer« gibt es auch in der osteuropäischen Volksmusik. Die Jazz-Theorie bezeichnet Nr. 2 und Nr. 3 als #9 (übermäßige None) und #11 (übermäßige 11), weil sie Akkorde grundsätzlich als Terzen-Schichtung auffasst.
Jazz-Harmonik dagegen ist ein komplexes, im Laufe der Jazz-Geschichte immer artifizieller werdendes Phänomen. So wurde »Jazz« – zunächst in den USA, dann aber weltweit, also auch in Deutschland – zu einem Hochschul- bzw. einem universitären Fach, das man in der Regel mindestens acht Semester lang studiert und für das man eine komplexe Zugangsprüfung zu absolvieren hat.
Unterrichtet werden einzelne Instrumente und Instrumentengruppen, Jazz-Gesang, Jazz-Theorie, Komposition, Arrangement, Improvisation etc. Grundsätzlich haben alle Jazz-Akkorde mindestens vier verschiedene Töne. Sie sind also immer dissonant, doch hören wir diese Dissonanzen als interessante Reizzusätze, als Farben, die wir nicht als »auflösungsbedürftig« empfinden. Es sind dies »emanzipierte Dissonanzen«; das verbindet den Jazz mit anderen Spielarten der »Neuen Musik« des 20./21. Jahrhunderts. Die Verknüpfung dieser Akkorde geschieht in der Regel durch permanente Quintfälle des Bassfundaments (ich nenne das gern den »endgültigen Triumph des Jean Philippe Rameau«, eines französischen Komponisten und Musiktheoretikers aus dem 18. Jahrhundert). Aber auch Parallelverschiebungen von Akkorden (»Mixturprinzip«) gehören zu den vielen Möglichkeiten. Jazz-Harmonielehren zeichnen sich durch hohe Komplexität aus.
Genannt seien wenigstens einige der typischen, in der Regel in 16-taktigen Standards komponierten Jazz-Changes (= Akkordfolgen) und Jazz-Turnarounds
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