Der Musikversteher
all diesen Fragen. Aus dem strikten Autonomiebegriff heraus kommen sie zu Resultaten, in denen die Angewandte Musik eine wichtige Rolle spielt: die selbstgesetzten Funktionen bestimmen die musikalischen Mittel. Wenn Helmut Lachenmann Musik für Kinder schreibt (etwa HÄNSCHEN KLEIN in: EIN KINDERSPIEL, Zyklus von Klavierstücken), wird die Musiksprache radikal anders sein als in seinen Orchesterwerken oder seiner Oper DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN. Luciano Berios FOLK SONGS und seine Bearbeitungen von drei Lennon/McCartney-Songs sind durchaus unterhaltender als seine SINFONIA und dennoch hervorragende Musik. Hans Werner Henzes Begriff der Musica impura, der planvoll unreinen, permanent grenzüberschreitenden, verfremdenden Musik ist unser zeitgenössischer Anknüpfungspunkt an die Errungenschaften der zwanziger Jahre.
Und ich – ganz persönlich – weigere mich, einen möglichen unendlichen sinnlichen und kognitiven Reichtum der Musik, der wunderbarste Extreme durchmessen kann, einer vermeintlichen Reinheit eines dünn-dogmatischen Kunstbegriffs zu opfern. Und ich freue mich, wenn ich mit David Bowie, Radiohead, Sophie Hunger, Björk, Portishead, dem Ersten Wiener Gemüse-Orchester, der Gruppe »Brandt Brauer Frick« und vielen anderen ebenso neugierige und undogmatische Verbündete finde, die sich ebenfalls der Erkundung der wunderbaren, grenzüberschreitenden Extreme widmen.
Intermezzo 2:
DAS KARUSSELL
(Garten der Eitelkeiten)
Trotz Konkurrenz und Krach und Missklang dreht
sich immer weiter der Bestand
von bunten Vögeln, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Sie alle sind in Medien eingespannt,
und alle haben Mut in ihren Stimmen.
Und manche Stimme wird verdimmen.
UND DANN UND WANN EIN WEISSER PRODUZENT.
Sogar ein Platzhirsch röhrt ganz wie im Wald,
mit Brettern vor dem Kopf und gar
mit Bohlen, seiner Stirne aufgeschnallt.
Und vor der Jury singt sich heiß ein Junge,
in dumpfem Gleichtakt ballt er seine Hand,
dieweil der Platzhirsch Zähne zeigt und Zunge.
UND DANN UND WANN EIN SCHWARZER PRODUZENT.
In knappen Fummeln kommen sie vorüber,
die Quotenmädchen jeglichen Talents.
Für den Erfolg in Konkurrenz enthemmt
schaun Töchter, Söhne zum Konzern hinüber –
UND DANN UND WANN EIN BUNTER PRÄSIDENT.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
Blockbuster, Raster, Zaster ohne Ziel,
ein Rot, ein Blau, ein Gelb vorbeigesendet,
ein kleines musikalisches Profil –
und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
das uns verzaubert, blendet und verschwendet
in diesem atemlosen Schein und Spiel.
– mit Dank an Rainer Maria Rilke –
II. ANALYSEN/INTERPRETATIONEN
(mit Wanderungen durch musikalische Märchenlandschaften)
Voraussetzungen: Traditionelle Analysemethoden und notwendige Erweiterungen
Wir haben in diesem Buch bisher schon zahlreiche Analysen kennengelernt – meist mit gezielten Fragestellungen, die sich aus den Kontexten der entsprechenden Kapitel ergaben. Jetzt werden die Analysen eher für sich stehen. Darum seien zu Beginn noch einmal einige grundlegende Fragen angesprochen.
Was wird in der traditionellen Musiktheorie/Musikwissenschaft in der Regel untersucht, auch dann, wenn es sich um Analysen von Rock- und Popmusik handelt? Es geht um sogenannte »Primär-Eigenschaften« der Musik, also:
Melodie;
Harmonie/Akkordverbindungen;
Rhythmik, Takt, Tempo;
damit verbunden Grund-Charaktere der Musik, Temperamente, Affekte;
modellhafte Formeln bzw. »Topoi«, überlieferte musikalische »Redewendungen« aus der Musikgeschichte, die immer auch bestimmte Bedeutungen haben (das betrifft alle Genres der Musik);
Techniken des Tonsatzes (etwa »Melodie + Begleitung«; »Mehrstimmigkeit«, vokal wie instrumental; »Kontrapunkt« mit Selbstständigkeit der Stimmen);
Formbildung;
Instrumentation/Besetzung;
und all das, bei Vokalmusik, in Relation zum Text gesetzt: wie erhellen sich die Text- und die Musik-Aussage wechselseitig?
Das ist einerseits sehr korrekt, muss aber andererseits als nur ein Teil der musikalischen Realität verstanden werden: das eigentliche Innovationspotential, die Unverwechselbarkeit von Blues, Rock, Folk, Reggae, Pop, Rap, Hiphop, Techno, Dark Ambient etc. ist nicht allein im traditionellen Tonsatz verortet. Weit mehr finden wir die Originalität in folgenden »Parametern«, d. h. messbaren musikalischen Eigenschaften:
in der sehr individuellen Klang-Inszenierung, im »Sound«: dazu gehören neue Spielweisen auf traditionellen Instrumenten, Verfremdungen
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