Der Musikversteher
Kontrast-Prinzip; dynamische Kontraste durch Instrumentation; Laut-leise-Wechsel in der Sound-Dramaturgie als Mittel der Formbildung; sforzatopiano, also starker kurzer Akzent, leise weiterklingend etc.
Artikulationsweisen von Tönen und Tongruppen: legato, weich aneinandergebunden; portato, weich, aber voneinander abgesetzt; staccato, spitz gestochen; marcato, kräftig akzentuiert; tenuto, gehalten-gedehnt; akzentuiertes Abstoppen von ursprünglich gedehnten Tönen; hartes Anreißen; Übertragung von Konsonanten, Knack- und Reibelauten aus der Sprache auf Instrumente.
Nicht exakte Tonhöhen: »Anschleifen« oder gar »Antauchen« (Nena) von Tonhöhen; Glissandi, »Gleittöne«; Sprachtonfall-ähnliche Artikulation auf Instrumenten; Ausdehnungdes Bluenote-Prinzips über die drei »klassischen« (b7, b3, b5) hinaus.
Geräuschanteile: auch hier Konsonanten, Kehl-, Knack- und Reibelaute etc. aus der Sprache; »dirty play«, primär aus dem Jazz übernommen; Flatterzunge bei Blasinstrumenten; Nebenluft, Schmatzen; Verzerrer und kreischende Partialton-Spektren durch technische Verfremdungen, Rückkopplungs-Effekte.
Klangfarben-Varianten: charakteristische Spektren z. B. durch sprachgeprägte Dispositionen von Kehlkopf, Mundhöhle, Zunge – der »nuschelnde« Lindenberg klingt bei allem, was er singt, anders als der »nölende« Jan Delay oder der »gutturale« Grönemeyer; solche Spektren sind aber unabhängig von diesen Individuen herstellbar, auch instrumental; all das ist computergestützt unendlich erweiterbar durch digitale, auch live-elektronische Möglichkeiten.
Tempo-Varianten: z. B. beschleunigen – verlangsamen; abrupte Tempo-Wechsel wie »double time; bei gleichbleibender Geschwindigkeit des Beats/Pulses raschere oder gedehntere Notenwerte; einfügen von Pausen; »Fermaten« als Dehnung einzelner Töne oder Pausen.
Wenn all diese – noch keineswegs vollständigen! – Möglichkeiten auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft werden, ergibt sich ein gewaltiges Potential von Varianten, also auch von individuellen Gestaltungsweisen. Das gilt für das Spielen von Instrumenten genauso wie für die sängerische Artikulation, wobei Tasteninstrumente wie Klavier und Cembalo mit ihren fixierten Tonhöhen und ihren – nach dem Anschlagen/ Anreißen – immer verklingenden Tönen deutlich benachteiligt sind gegenüber Streichern, Bläsern, Gitarren (Synthies allerdings haben mehr Möglichkeiten).
Die Unverwechselbarkeit einer Singstimme resultiert nicht nur aus dem spezifischen Stimmtimbre, sondern mindestens so sehr aus den individuellen Artikulationskombinationen. Jede Sprache unterscheidet sich schon durch Klangfarbe/Artikulation/Tonhöhen-Dispositionvon den anderen; aber auch in einer Sprache gibt es erhebliche Unterschiede: Das typische amerikanische Englisch können Sie allein am Tonfall mühelos vom Oxford-Englisch unterscheiden, auch dann, wenn Sie kein Wort verstehen. Das gilt auch für das Verhältnis von norddeutschem Platt zum Schwäbischen, Bayerischen etc.
So ist das also, wie bereits angedeutet, auch in der Popmusik. Bei BAP rätsele ich bisweilen: Ist das nun »Kölsch« oder nur ein Resultat von zu viel »Kölsch«? Beim nuschelnden Nöler Udo Lindenberg verstehen Sie nur selten ein Wort, noch weniger beim gutturalen Hochdruck-Presser und -Stammler Herbert Grönemeyer, aber beide singen irgendwie trotzdem Deutsch – genau so wie der näselnde Nöler Jan Delay. Genau das ist aber ihr jeweiliges »Markenzeichen«, und ihre Unverwechselbarkeit auch auf dieser Ebene ist ein Teil ihres Erfolges (und die Basis des Erfolges zahlreicher Imitatoren/Parodisten). Auch wenn das Gesangs-Lehrer ungern hören: »Schön« singen ist in diesen Genres viel unwesentlicher als »charakteristisch« singen. Ich hoffe immer noch auf ein Lehrbuch, betitelt etwa »Die Kunst des individuellen Nicht-Singen-Könnens«.
1. Nuscheln, Nölen, Hochdruckstammeln im Musikbusiness
Herbert Grönemeyer MENSCH (2002)
– http://www.youtube.com/watch?v=kWbN3-6o3WQ
Was macht Grönemeyer so »authentisch« (vom Markenzeichen des Hochdruck-Gutturalen abgesehen), in den Stücken wie in der Person? Wie sieht er das Verhältnis von Musik und Text in seinen Stücken? Wie ist das hier umgesetzt in seinem bisher erfolgreichsten Song MENSCH?
Die Intro (0’00’’– 0’24’’) ist eine merkwürdige Mischung: Zur afrikanisch/karibisch inspirierten Rhythmussektion sind Töne von Seevögeln zu hören, aber auch Drumcomputer;
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