Der Musikversteher
von Klangerzeugungen (selbstverständlich auch im Bereich des Vokalen – mit natürlichen wie mit technischen Mitteln) und die Generierung von völlig neuen Klangfarben durch neue technische Entwicklungen;
in Schichtungs-Prinzipien der Mehrspur-Techniken: Die müssen dem traditionellen Kontrapunkt an Komplexität nicht nachstehen; auch ganze Klang-Räume können generiert und einander konfrontiert werden;
in Grenzüberschreitungen: Collagen, Einbeziehung von Geräuschen und von anderer Musik sind besonders durch digitale Sampleverfahren selbstverständlich geworden, ebenso Performanz-Prinzipien, darstellende Elemente, Gesten, Körperlichkeit;
und: wie eine Melodie, eine Akkordfolge, ein Percussion-Rhythmus artikuliert und phrasiert werden (gleich, ob vokal oder instrumental, z. B. auf der Leadgitarre), das trägt ebenso zur Unverwechselbarkeit bei. Phrasierung und Artikulation sind auch essentiell bei der Erzeugung von rhythmischem »groove«.
Nicht nur die Autoren, sondern ebenso die »Producer« und die Interpreten haben einen wesentlichen Anteil am Gelingen und – ganz besonders! – am Erfolg eines Stückes. Die GEMA mit ihren Kategorien berücksichtigt das nicht; im Urheberrecht und in den zahlreichen Prozessen um Urheberrechtsverletzungenaber spielt das eine zunehmend wichtige Rolle, und den Gutachtern kommt dabei eine wesentliche Rolle zu. Als Gutachter in zahlreichen Urheberrechtsprozessen weiß ich, wovon ich hier spreche. Da Popmusik-spezifische Kriterien immer noch nicht genügend ihren Weg in die Musikwissenschaft gefunden haben, empfehle ich dringend die Lektüre entsprechender Publikationen zu vergleichbaren Phänomenen. 52
Nehmen wir an, eine Melodie bleibt in ihren Tonhöhen und in ihren Rhythmen immer gleich; und doch ist sie auf verschiedenste Weise unterschiedlich artikulierbar. Vielleicht erinnern Sie sich an das unvermeidliche Happy Birthday zu den Geburtstagen diverser US-Präsidenten. Ich greife (nicht zufällig) auf zwei Superkonstellationen zurück: Marilyn Monroe für John F. Kennedy (1962) und Jennifer Hudson für Barrack Obama (2011).
Bei Marilyn Monroe hören wir ein gehauchtes, scheinbar naives Stimmchen, das kindlich unschuldige, vibratolose Töne in die verlockenden Verheißungen der verrucht-verrauchten Artikulation mit Turbo-Vibrato umschlagen lässt. Jedes gesungene Wort ist mit versteckt-offener sexualisierter Bedeutung aufgeladen: durch Zerdehnung, durch Pausen mit angeseufztem Hauchen, durch Glissando-Abbrüche, durch Akzente wird auch für die Nicht-Eingeweihten das versteckt offene Geheimnis unter der glatten Liedoberfläche offenbar. Die danach erklingenden Teile dieses Ständchens werden dann mit objektivierter Routine absolviert.
Jennifer Hudson dagegen erfüllt die Rolle der professionell ausgebildeten soulerfahrenen offiziellen Geburtstagssängerin, die auf Präsidenten-Geburtstagen ebenso wie bei Football-Endspielen und Trauerfeiern singen kann und konnte. Sie tut dies mit einer expansiv-großen Stimme, die sich an Barack persönlich wendet, aber gleichzeitig die Welt von Barack überzeugen will. Das letzte »birthday« bringt eine perfekte Blue Note als Mikroton zwischen Dur- und Moll-Terz. Eine rhythmisch freie Zerdehnung des harmlosen Geburtstagsliedchens geschiehtauch bei ihr, jedoch ohne die mehrdeutige Aufladung einzelner Worte. Selbstverständlich kannte sie Marylins Version – sie ist präsent, wird aber genau deswegen bewusst nicht imitiert, ja peinlich genau vermieden.
Anmerkung für die Kenner aus der »Klassik-Fraktion«: All das gilt ebenso für Bach, Mozart, Brahms etc.; sogar dann, wenn Tempo- und Charakterangaben, Dynamik, Artikulation und Phrasierung vom Komponisten selbst notiert sind, gibt es noch zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten der Realisierung. Was da alles möglich und sinnvoll ist, darüber gibt einerseits die historische Aufführungspraxis Auskunft. Andererseits aber können auch die Erfahrungen mit der Musik unserer Gegenwart dazu führen, historische Musik neu zu fühlen und zu denken – d. h. Artikulationen und Phrasierungen auf eine andere Weise zu individualisieren.
Nicht nur in der Rock- und Popmusik lassen sich folgende Möglichkeiten systematisieren:
Dynamische Abstufungen: statt Einheits-Lautstärke (z. B. früher Rock’n’Roll) verschiedene Lautstärke-Grade; crescendo und decrescendo, also An- und Abschwellen der Lautstärke für Einzeltöne und für Tongruppen; abrupte laut-leise-Wechsel als starkes
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