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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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müssen, ohne zu wissen warum.« 50
Die zwanziger und dreißiger Jahre
    Faschismus und Stalinismus verursachten auf allen Gebieten der Künste Verheerungen, deren Nachwirkungen bis zum heutigen Tage spürbar sind und auch unseren Untersuchungsgegenstand tangieren. Gerade in den Zwanzigern waren zahlreiche grandiose Lösungen zur Überwindung einer starren »E«- und »U«-Trennung gefunden worden; in der Musik meist in direkter Auseinandersetzung mit der Ästhetik Richard Wagners: Eines seiner Ziele war das Verbergen der Kunstmittel, die magische Verzauberung. Das unsichtbare, versenkte Orchester in Bayreuth, dessen Töne quasi aus dem Nichts kommen, steht für diese Konzeption. In Frankreich beginnt die Tendenz zur Entzauberung, zur Offenlegung der Kunstmittel, zur Einbeziehung auch jeglicher Popularmusik in die eigenen Werke schon mit Claude Debussy; dann kommt die Gruppe der Sechs um Jean Cocteau. Weiter zu nennen sind Igor Strawinsky, Kurt Weill und Hanns Eisler; in der Sowjetunion primär Dmitri Schostakowitsch. Von der anderen, der »U«-Seite kommen beispielsweise George Gershwin oder Astor Piazzolla auf die Vertreterder neuen »E«-Musik zu, sie nehmen (beide in Paris!) Unterricht und entwickeln so ihre eigene Musiksprache sehr charakteristisch weiter.
    Diese äußerst lebendige Blütezeit, in der partiell sogar eine Einheit von sozialem, politischem und künstlerischem »Avantgardismus« verwirklicht war, wurde in den dreißiger Jahren jäh erstickt; und die Konsequenz, die nach der Erfahrung des totalen Missbrauchs der Kunst durch die Politik dann in den Fünfzigern gezogen wurde, war die einer – scheinbaren – totalen Entpolitisierung der Kunst, einer Flucht in die abstrakten Probleme des Materials und der scheinrationalen Materialbeherrschung. Berührungsängste vor »U« (das als »U«nsauber, »U«nter der Gürtellinie aufgefasst wurde), zeichnen den abstrakten Avantgardisten ebenso aus wie den Hersteller keuscher Kirchenmusik. Wie wunderbar anders doch die Situation dreißig Jahre früher!
    Ohne eine grundlegende Kategorie, entwickelt in der literarischen Theorie des Russischen Formalismus (u. a. von Viktor Schklowsky, St. Petersburg 1916) und weitergeführt im Begriff des Epischen Theaters bei Brecht, sind alle Versuche, »E« und »U« in ein Ganzes zu integrieren, nicht verstehbar: Es ist dies die Kategorie Verfremdung (V).
    An Tango, Walzer, Ragtime aus Strawinskys DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN (entstanden in der Schweiz 1917/18) kann diese Kategorie exemplifiziert werden: Diese Tänze sind nicht einfach pittoreskes musikalisches Material, sondern sie definieren soziale Orte, deren Benennung Erkenntnis stiftet, kognitive wie sinnliche. Mit dem lasziven Tango (damals in zahlreichen europäischen Staaten noch verboten!) wird ausgerechnet die Prinzessin vom Soldaten, dem underdog, verführt; der Walzer meint schäbige, beschädigte Lebensfreude der Upper class; und auch dem Ragtime haftet die Herkunft aus den amerikanischen Rotlichtbezirken noch an. Nicht psychologisierendes Einfühlen in die Personen wird angestrebt, sondern das Zeigen, Vorführen von gesellschaftlich geprägtenHaltungen. Dadurch, dass die »U«-Ebene den Verfahrensweisen der Neuen Musik ausgesetzt wird, erscheint sie verfremdet, d. h. man kann hörend nicht einfach »drauf abfahren«, sondern bleibt gefordert; anderseits wird jede Hermetik Neuer Musik durch eben diese »U«-Elemente verfremdend durchbrochen. Und, ein antiwagnerianischer Gipfelpunkt: das kleine, siebenköpfige Orchester sitzt auf der Bühne und ist Teil der Szene. Offenlegung und Verfremdung der Kunstmittel – da wird deutlich, dass Strawinsky zur Petersburger Avantgarde gehört.
    – http://www.youtube.com/watch?v=YCOD3hEvxxM , Tango (Beginn), Walzer (ab 2’20’’), Regtime (ab 4’22’’, bitte nicht von der Inszenierung/Choreografie irritieren lassen …)
    Genau dieses Denken kennzeichnet auch Kurt Weills Kompositionen auf Brecht-Texte, etwa in der DREIGROSCHENOPER, dem BERLINER REQUIEM, MAHAGONNY. Hinzu kommt bei Weill, wie auch bei Stücken Eislers dieser Phase, ein »pädagogischer V-Effekt«. Auch der musikalisch nicht oder wenig vorgebildete Hörer wird bei einer Musiksprache »abgeholt«, die ihm vertraut ist; und er wird – im besten Falle – dorthin geführt, wo die absichtsvolle Beschädigung dieses Vertrauten im szenisch-dramaturgischen Kontext Erkenntnis stiftet und damit auch ein bewusstlos-dumpfes Einfühlen in Musik durchbricht.

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