Der Musikversteher
Schärfer, genauer noch als Weill – kompositorisch wie in theoretischer Reflexion – bringt Hanns Eisler »Verfremdung« auf den Punkt. Das »Auseinandertreten von Material und Verfahrensweisen« gibt beispielsweise dem Jazz der antirassistischen BALLADE VOM NIGGER JIM seine Doppelbödigkeit; seichte Exotenromantik, Trauermarsch und Kampflied erhellen sich wechselseitig in der BALLADE VON DEN SÄCKESCHMEISSERN (1930), die das (bis heute aktuelle) Problem der Lebensmittelvernichtung bei gleichzeitigem millionenfachem Verhungern thematisiert.
– http://www.youtube.com/watch?v=Kp8rPOqUjPc
»Die alten handwerklichen und ästhetischen Kriterien – ist Musik gut oder schlecht, veraltet oder originell – reichen nicht mehr aus und helfen nicht mehr weiter. Es müssen zu ihnen noch neue kommen; gesellschaftlicher Zweck, Auftrag und Verantwortung.« So schrieb Hanns Eisler 1951, zurück- und vorwärtsblickend zugleich. »Komponisten und Hörer müssen voneinander lernen. Der Komponist darf an Kunstfragen nicht abstrakt herangehen, sondern muss endlich begreifen, dass die Anwendung bestimmter musikalischer Techniken vom Inhalt abhängt. Der Hörer muss wissen, dass nicht jedes Musikstück sofort verstanden werden kann. Das trifft freilich nicht auf alle Genres der Musik zu. Hörer und Komponist müssen unterscheiden lernen zwischen Genres, die leicht verstanden werden können, und Genres, die es dem Hörer schwer machen, sogar eine gewisse Vorbereitung verlangen. Wir Komponisten müssen von den Hörern denselben Realismus verlangen, der mit Recht von uns gefordert wird.« 51
Probleme beim Hören und Verstehen von Neuer Musik
Isolierung der Neuen Musik als soziales und als ästhetisches Phänomen
Schon in den zwanziger Jahren wurde die zunehmende Isolierung beklagt, und zahlreiche Komponisten versuchten auf völlig unterschiedliche Weise, Strategien der Überwindung derKluft zwischen Avantgarde und Popularem zu finden. Diese wunderbaren Ansätze sind durch die Nazis und durch den Stalinismus zerstört worden. In Donaueschingen, dem Ort alljährlicher Festivals, »kannte man sich« schon damals, und »man kennt sich« auch heute; das ist bei der Münchner Biennale so, das ist bei der März-Musik in Berlin so, das ist überall so.
Immerhin: es gibt eine »Event-Kultur« auch der Neuen Musik, wenn sie von den »richtigen Machern« im »abgefahrenen Ambiente« dargeboten wird: Simon Rattle und die BerlinerPhilharmoniker füllten einen riesigen Hangar des Flughafens Tempelhof auch mit Karlheinz Stockhausens GRUPPEN FÜR DREI ORCHESTER, einer seiner besten Kompositionen.
In der Bildenden Kunst sind fürs Verstehen nicht so viele Bildungsvoraussetzungen nötig wie in der Musik. Unser Schulsystem produziert permanent musikalische Analphabeten, und dann ist es kein Wunder, wenn einerseits die MOMA-Ausstellung überlaufen ist und andererseits der Witz von den beiden jungen Komponisten erzählt wird: »Meine Zuhörerschaft hat sich verdoppelt!« – »Gratuliere! Ich wusste nicht, dass du geheiratet hast.«
Aber ein Festival wie Donaueschingen ist, bei aller objektiv konstatierbaren gesellschaftlichen Isolierung, nötig und wichtig als Ort des Austausches unter Spezialisten. Doch sogar unter dieser Käseglocke greifen die Mechanismen des Marktes und der Moden – auch dann, wenn hoch subventioniert wird. Das ist alles viel harmloser als in der Bildenden Kunst, denn es geht in der Neuen Musik um vergleichsweise sehr bescheidene Summen.
Sobald Musik mit anderen Medien kooperiert, wird auch Avantgardistisches für Hörer ohne musikalische Bildungsvoraussetzungen sehr plausibel (Theater, Film, Fluxus etc.). Besonders im Film kann das sprichwörtliche »Massenpublikum« durch Bartók oder Ligeti gerührt, beeindruckt, mitgerissen werden (erinnern Sie sich an Stanley Kubricks 2001 oder an The Shining ). Rhythm Is It hat sowohl allen beteiligten Jugendlichen als auch sehr vielen Kinogängern und noch mehr Fernsehzuschauern Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS sehr nahegebracht. Befremden oder nicht – das ist eine Frage der Kontexte. Und von den Kontexten hängt auch ab, was ich wie für wen komponiere. Wenn jemand in einer Kinderoper die gleichen musikalischen Mittel und Verfahrensweisen einsetzt wie in einem Kammermusik-Werk, das sich explizit an musikalisch Gebildete wendet, dann ist das naiv oder dumm oder gleichgültig.
Überfordernd ist Neue Musik nur, wenn sich die Komplexität als abstrakte präsentiert. Das gilt
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