Der Musikversteher
die Gitarren-Figuration jedoch (in h-Phrygisch, also mit dem Halbton c über dem h) ist ganz »europäisch«.
Die Strophen haben etwas, das strophenspezifisch für die meisten Genres der Rock- und Popmusik ist: den rezitierenden Sprechgesang, der in der Regel einen fixierten Ton benutzt und den an charakteristischen Stellen figurativ umkreist. Grönemeyer bleibt in h, umkreist auch genau diesen Ton h, wechselt aber vom Phrygischen ins äolische Moll – zu Beginn sogar pentatonisch (in der 4. Zeile »harmonisch Moll« mit cis und ais):
Der Text der ersten Strophe (0’21’’– 0’44’’) vermittelt die Haltung einer scheinbaren Gleichgültigkeit; aber die unruhig-getriebene Musik dementiert das, nicht nur in den Gitarren, sondern auch in merkwürdig abgerissenen Streicherfigurationen.
Im Refrain (0’44’’–1’10’’) dürfen die Streicher endlich ihre refraintypische Kantilene singen, die Stimme wird von dieser Kantilene förmlich getragen, und die Musik geht von h-Moll(phrygisch, äolisch und »harmonisch«) nach D-Dur, »unbeschwert und frei«.
Aber auch das ist nur vorübergehend: »der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst und verdrängt«. Und am Schluss des Refrains: »Du fehlst«. Zurück in h-Moll. Eine der vielen Erinnerungen an Grönemeyers verstorbene Frau Anna.
Der weitere Verlauf bietet die Normalität des Popsongs: Strophe 2, Refrain 2; eine Bridge wird erwartet – sie kommt, aber sie überrascht.
In der Bridge (2’08’’– 2’43’’) sind die Seevögel der Intro wieder da, wir sind nun wirklich in der Karibik, u. a. mit einigen typischen Reggae-Rhythmen, und wir hören zum ersten Mal ein Klavier, sehr persönlich (Grönemeyers Instrument, auch in seiner Zeit als Theatermusiker). Die Bridge geht in den erweiterten Refrain über, jetzt mit großem Klangpanorama; als »privater« Kommentar bleibt das Klavier bis zum Schluss.
Das ist berührend, vielfältig, gut gemacht. Artifiziell wirkt der Text etwas schwächer, aber das wird durch seinen Gehalt und durch seine produktiven Widersprüche mehr als wettgemacht. Und einige Zeilen sind richtig gut.
Jan Delay/Udo Lindenberg: IM ARSCH (2006)
– http://www.youtube.com/watch?v=voOERKZaiAk (tontechnisch hat diese Privataufnahme leider eine ziemlich miserable Qualität, dafür eine spontane Live-Frische)
Nun zum Duo, das sich fand, um kundzutun (in Worten und bewegenden Tönen), dass nicht nur vieles, sondern sogar alles im Arsch sei. Die Stimmen und alles mögliche andere mag wirklich im Arsch sein – der attraktive Wiedererkennungs-Faktor aber ist gegeben, und der trägt sogar diese Gemeinschaftsproduktion des Nuschel-Nölers Udo mit dem Näsel-Nöler Jan. Analysieren wir den angedeuteten Song genauer:
Wir beginnen bei der Jan-Delay-Strophe ab 1’02’’. Doppeltes »ostinato« in f-Moll: ein Latin-Rhythmus des leeren Quint-Oktav-Klangsf 1 -c 2 -f 2 mit acht repetierten, geraden Achtelnoten, die aber drei+drei+zwei akzentuiert sind, dazu ein ostinater Bass:
Dazu wird im Text eine ganze Trümmerlandschaft entworfen: Asche, Schutt, Galle, Dreck, alles weg.
Dann die resümierende Hookline als Refrain »alles im Arsch, alles am Ende – hätte, würde, könnte – zu spät.« Und da wird eine berühmte Pendelharmonik zitiert (ab 1’36’’): Es ist die aus Fryderyk Chopins TRAUERMARSCH in seiner 2. Klaviersonate b-Moll. Delay/Lindenberg pendeln ebenfalls zwischen einer VI. Stufe (Dur) und einer i. (Moll) – das ist selbstverständlich auch eine Huldigung an den Beginn von ELEANOR RIGBY der Beatles; dort wurde zwischen C-Dur und e-Moll gependelt, hier ein Halbton höher zwischen Des-Dur und f-Moll. Dann mischt sich Udo ein, ab 2’10’’ (Strophe 2), ab 2’18’’ mit seinem Markenzeichen-Scat »düédi-düée … de-de-dee …«.
Es folgt ein sehr poetischer Text mit schönen Bildern: »Der Traum ging in Rauch auf – auch Seifenblasen hinterlassen Trümmer«.
Alles im Arsch, besonders im Königreich Pop, das von bösen Unholden der Branche tyrannisiert wird – das ist die Szenerie der erste Station in unseren musikalischen Märchenlandschaften. Der Nuschler, der Nöler und der Hochdruckstammler erleben, wie sich da zunächst alles zum Guten zu wenden scheint. Dank an die Gebrüder Grimm!
Das tapfere Schreiberlein.
Ein Musikmarkt-Märchen In der Zeit, als das Wünschen auch schon nichts geholfen hat, da lebte einmal ein armer Songschreiber im Königreich Pop. Immer, wenn er einen Song fertig hatte,
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