Der Musikversteher
ebenso für avantgardistischeRock- und Popmusik wie die von Frank Zappa. Auch von Bach, Mozart, dem späten Beethoven gibt es Stücke, die in ihrer Komplexität völlig überfordernd sind. Aber: Sie haben in der Regel auch eine Ebene der sinnlichen Unmittelbarkeit. Sie sind also in sich vielschichtig angelegt, und auch ein nur wenig oder nicht vorgebildeter Hörer kann J. S. Bachs h-Moll-Messe hören und auf wesentlichen Ebenen der Gefühle und Affekte auch verstehen, ohne die Schichten der Tiefendimensionen wirklich erfassen zu müssen. Das erschließt sich alles, wenn überhaupt, erst viel später.
Ich behaupte nun, dass in neuer und neuester Musik dann, wenn sie gut und vielschichtig komponiert ist, eine ähnliche Beobachtung gemacht werden kann: Wenn die sinnliche Unmittelbarkeit als Ebene des ersten Zugangs fehlt, dann wird alles sehr, sehr problematisch. Das ist übrigens gar keine Frage von Konsonanz oder Dissonanz; es gibt Stücke fast ohne Dissonanzen, die dennoch völlig sperrig und hermetisch sind, und es gibt dissonante Krimimusiken (wie der Tatort -Trailer) und auch Jazz-Standards, die fast ohne jede Konsonanz auskommen und doch für (fast) alle plausibel sind.
Das Hören tendiert erheblich mehr zum Konservativen, zum Festhalten am sogenannten »guten Alten« als das Sehen. Das sind Erkenntnisse der Musikpsychologie und der Kognitionswissenschaften. In der Pop-Kultur glaubt man permanent, »modern« zu sein – es ist aber fast immer nur das Erscheinungsbild des Neuen, also Sounds und Inszenierungsweisen, und melodische, harmonische und formale Strukturen sind gleichzeitig oft von bestürzender Konformität. Fast jedes Popvideo ist visuell ästhetisch unendlich viel »neuer« als musikalisch.
Natürlich ist »Hören« nur eine Metapher fürs »auditiv herbeigeführte Verstehen«, und das ist sowohl emotional als auch kognitiv. Es gibt also diese fast naturwüchsige Tendenz des Hörens zum Regressiven, harmloser gesagt zum Beharren auf dem, was man für »natürlich« hält (was aber Resultat von geschichtlicher und gesellschaftlicher Konvention ist). Damit solltenKomponierende Neuer Musik bewusst, aktiv umgehen lernen; sie sollten also Fixpunkte von sinnlicher Unmittelbarkeit in den Kompositionen verankern. Mit denen werden dann die Ausflüge in die Weiten des Unvertrauten und – hoffentlich – des Abenteuerlichen viel plausibler und auch aufregender.
Hier sprach der Hochschullehrer mit erhobenem Zeigefinger. Und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich Einsicht und Vernunft wenigstens auf dem bescheidenen Felde des Künstlerischen – selbstverständlich wissenschaftlich untermauert – durchsetzen können.
Dass bestimmte Entwicklungen der E-Avantgarde dann in die Popkultur gleichsam »auswandern«, versteht sich fast von selbst, so die frühen elektronischen Experimente und Band-Schneide-Experimente von Stockhausen, Berio und anderen in Richtung von Frank Zappa, Kraftwerk etc.; wir finden die musique concrète von Pierre Schaeffer und anderen, ebenso Collagetechniken von Mauricio Kagel bei den Beatles, bei David Bowie, bei Björk etc. Umgekehrt aber sind auch, gerade, was die Digitalisierung betrifft, zahlreiche in der Popkultur entwickelte Techniken wie Sampling, Loop-Bildungen, Vocoder-Techniken, Sounddesign in Richtung »E-Musik« und Avantgarde exportiert worden.
Das Hören nicht nur der Neuen Musik, sondern auch das der Rock- und Popmusik muss erfahren und gelernt werden. Grundlegend ist das Motto: Lehret die Lehrer! Institutionen wie Orchester und Opernhäuser sind involviert, aber auch zahlreiche Stiftungen. Das ist ein umfassender »Education«-Begriff, der sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche bezieht; sogar die »Macher« selbst sind (im besten Falle) in einem permanenten Lern- und Weiterbildungsprozess. Notwendig ist die Kooperation von Medien, Schulen, Musikschulen, Hochschulen, Kultur- und Bildungspolitik, der Stiftungen und der genannten Institutionen.
Dem drohenden Total-Abbau der öffentlichen Mittel muss entgegengewirkt werden.
Fragen an mich selbst/Antworten
Wie hältst du’s mit der Unterhaltung? Was hat das mit gesellschaftlicher Verantwortung zu tun? Schreibst du unterschiedliche Musik für unterschiedliche Genres? Gilt die Kategorie »Verfremdung« noch heute, für dich?
Gute Komponisten und Komponistinnen der Gegenwart, davon bin ich überzeugt, die in der Lage sind, über sich selbst und ihr Metier nachzudenken, beschäftigen sich immer wieder mit
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