Der Mythos des Sisyphos
begeistert, nur nicht dieses Chaos, diesen König Zufall und diese göttliche Gleichwertigkeit, die aus der Anarchie erwächst. Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiß, daß ich diesen Sinn nicht kenne und daß ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner Situation liegt? Ich kann nur innerhalb menschlicher Grenzen etwas begreifen. Was ich berühre, was mir Widerstand leistet - das begreife ich. Und ich weiß außerdem: diese beiden Gewißheiten - mein Verlangen nach Absolutem und nach Einheit und das Unvermögen, diese Welt auf ein rationales, vernunftgemäßes Prinzip zurückzuführen - kann ich nicht miteinander vereinigen. Was für eine andere Wahrheit kann ich erkennen, ohne zu lügen, ohne eine Hoffnung einzuschalten, die ich nicht habe und die innerhalb meiner Situation nichts besagt?
Wenn ich Baum unter den Bäumen wäre, Katze unter den Tieren, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr: dieses Problem bestünde überhaupt nicht, denn dann wäre ich ein Teil dieser Welt. Ich wäre diese Welt, zu der ich mich jetzt mit meinem ganzen Bewußtsein und mit meinem ganzen Anspruch auf Vertrautheit in Gegensatz befinde. Eben diese so höhnische Vernunft setzt mich in Widerspruch zur ganzen Schöpfung. Ich kann sie nicht mit einem Federstrich abtun. Was ich für wahr halte, daran muß ich also festhalten.
Was mir so unabweisbar erscheint, darauf muß ich bestehen, auch wenn es sich gegen mich richtet. Und worauf beruht denn dieser Konflikt, dieser Bruch zwischen der Welt und meinem Geist, wenn nicht auf dem Bewußtsein, das ich von ihm habe? Wenn ich also an ihm festhalten will, dann nur durch ein beständiges, immer wieder neues, stets angespanntes Bewußtsein. Daran muß ich mich zunächst halten. Mit diesem Augenblick tritt das Absurde, das so evident und gleichzeitig so schwer faßbar ist, in das Leben eines Menschen ein und wird dort heimisch. In diesem Augenblick kann der Geist noch den unfruchtbaren, von hellsichtiger Anstrengung ausgedörrten Weg verlassen. Der mündet jetzt ins tägliche Leben ein. Der führt in die Welt des anonymen , aber der Mensch begeht ihn von nun an mit seiner Auflehnung und mit seinem Scharfblick. Er hat es verlernt zu hoffen. Endlich ist die Hölle des Gegenwärtigen sein Reich. Alle Probleme erhalten ihre Schärfe wieder. Die abstrakte Evidenz zieht sich vor dem Lyrismus der Formen und Farben zurück. Die geistigen Konflikte werden Fleisch und Blut und finden die armselige und großartige Heimstatt des menschlichen Herzens wieder. Nichts ist entschieden. Aber alles ist verwandelt. Soll man sterben, durch den Sprung entschlüpfen, ein Gebäude von Ideen und Formen nach seinem Maß erstellen? Oder soll man im Gegenteil auf die zerstörende und wunderbare Wette des Absurden eingehen? Machen wir in dieser Hinsicht noch eine letzte Anstrengung und ziehen wir alle unsere Schlußfolgerungen. Der Körper, die Zärtlichkeit, die Schöpfung, die Tätigkeit, der menschliche Adel werden dann in dieser sinnlosen Welt ihren Platz einnehmen. Der Mensch wird hier endlich den Wein des Absurden finden und das Brot der Gleichgültigkeit, mit dem er seine Größe speist.
Bestehen wir wiederum auf der Methode: es handelt sich darum, hartnäckig zu sein. An einem bestimmten Punkt seines Weges wird der absurde Mensch gereizt. Der Geschichte fehlt es weder an Religionen noch an Propheten, nicht einmal an Göttern. Man verlangt von ihm, daß er springt. Er kann bloß antworten, daß er nicht richtig begreift, daß dies nicht evident ist. Er will gerade nur das tun, was er richtig begreift. Man versichert ihm, daß das die Sünde des Hochmuts sei - aber er versteht den Begriff der Sünde nicht; daß ihn am Ende vielleicht die Hölle erwarte, aber er hat nicht genug Phantasie, um sich diese sonderbare Zukunft vorzustellen; daß er das ewige Leben verliere, aber das will ihm belanglos erscheinen. Man möchte ihn zur Erkenntnis seiner Schuld führen. Er fühlt sich unschuldig. Offen gesagt: er fühlt nur diese seine unersetzliche Unschuld. Sie erlaubt ihm alles. So fordert er von sich selber, nur mit dem zu leben, was er weiß, sich nur mit dem einzurichten, was ist, und nichts einzuschalten, was nicht gewiß ist. Man gibt ihm zur Antwort, nichts sei gewiß.
Aber das ist immerhin eine Gewißheit. Mit ihr hat er es zu tun: er will wissen, ob es möglich ist, unwiderruflich zu leben.
Dem Absurden
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