Der Mythos des Sisyphos
nicht
Wenn ich bei jener vereinbarten Haltung beharre, d. h. wenn ich alle Konsequenzen ziehe, die eine neue Erkenntnis mit sich bringt (und wenn ich nichts als diese Konsequenzen gelten lasse), dann sehe ich mich einem zweiten Paradox gegenüber. Um dieser Methode treu zu bleiben, lasse ich mich nicht auf das Problem der metaphysischen Freiheit ein. Zu wissen, ob der Mensch frei ist, interessiert mich nicht. Ich kann nur meine eigene Freiheit beweisen. Für sie kann ich keine allgemeingültigen Begriffe aufstellen, ich kann über sie aber einige klare Bemerkungen machen. Das Problem der hat keinen Sinn. Es ist nämlich auf eine ganz andere Art an das Gottesproblem gebunden. Wissen, ob der Mensch frei ist, verlangt, daß man weiß, ob er einen Herr haben kann. Die besondere Absurdität dieses Problems kommt daher, daß der Begriff selber, der das Problem der Freiheit möglich macht, ihm gleichzeitig jeden Sinn entzieht. Denn vor Gott gibt es weniger ein Problem der Freiheit als ein Problem des Bösen. Wir kennen die Alternative: entweder sind wir nicht frei, und der allmächtige Gott ist für das Böse verantwortlich. Oder wir sind frei und verantwortlich, aber Gott ist nicht allmächtig. Alle scholastischen Spitzfindigkeiten haben der Schärfe dieses Paradoxons nichts hinzugefügt und nichts genommen.
Deshalb darf ich mich nicht in die Überspannung oder an die einfache Definition eines Begriffs verlieren, der mir in dem Augenblick entgleitet und sinnlos wird, in dem er über den Rahmen meiner individuellen Erfahrung hinausgeht. Ich kann nicht verstehen, was eine Freiheit bedeuten soll, die mir von einem höheren Wesen verliehen wäre. Ich habe den Sinn für die Hierarchie verloren. Von der Freiheit kann ich nicht bloß die Vorstellung des Gefangenen oder die des modernen Individuums im Staate haben. Die einzige Freiheit, die ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns. Wenn aber das Absurde alle meine Chancen einer ewigen Freiheit zunichte macht, dann gibt es mir ja eine Handlungsfreiheit wieder und steigert sie sogar noch. Dieser Verlust der Hoffnung und der Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Verfügungsrecht.
Bevor er dem Absurden begegnet, lebt der Mensch täglich mit Zielen, mit einer Sorge um die Zukunft oder um eine Rechtfertigung (in welcher Hinsicht, danach fragen wir nicht). Er wägt seine Chancen, er rechnet mit der spätesten Zukunft, mit seiner Pensionierung oder mit der Arbeit seiner Söhne. Er glaubt noch, daß irgend etwas in seinem Leben gelenkt werden könne. Tatsächlich handelt er, als wäre er frei, wenn auch alle Tatsachen gegen diese Freiheit, sprechen. Aber nach der Begegnung mit dem Absurden ist alles erschüttert. Diese Vorstellung , meine Art zu handeln, als hätte alles einen Sinn (selbst wenn ich gelegentlich sage, daß nichts Sinn habe) - alles dieses wird durch die Absurdität eines möglichen Todes auf eine schwindelerregende Weise Lügen gestraft. An dem kommenden Tag denken, sich ein Ziel setzen, diese und jene Vorliebe hegen - das alles setzt den Glauben an die Freiheit voraus, selbst wenn man sich manchmal versichert, nichts von ihr zu spüren. Aber jetzt weiß ich, daß diese höhere Freiheit, diese Freiheit zu sein, die allein eine Wahrheit begründen kann, nicht existiert. Der Tod ist da, als die einzige Realität. Nach ihm ist alles vorbei. Ich habe nicht mehr die Freiheit fortzudauern, ich bin ein Sklave und obendrein ein Sklave, der auf keine ewige Revolution hoffen, sich auf keine Verachtung stützen kann. Und wer könnte ohne Revolution und ohne Verachtung Sklave bleiben? Welche Freiheit im vollen Sinne des Wortes kann es geben ohne die Gewähr einer Ewigkeit?
Gleichzeitig aber begreift der absurde Mensch, daß er bisher durch die Illusion, von der er lebte, an dieses Postulat der Freiheit gebunden war. In gewissem Sinne behinderte ihn das. Im selben Maße, wie er sich ein Ziel seines Lebens ausdachte, paßte er sich den Forderungen eines angestrebten Zieles an und wurde der Sklave seiner Freiheit. Demnach wüßte ich nichts anderes zu tun als der Familienvater (oder der Ingenieur, der Volksvertreter oder der Rundfunkbeamte), der ich werden will. Ich glaube, daß ich die Wahl habe, dieses zu sein und nicht etwas anderes. Ich glaube es unbewußt, das stimmt. Gleichzeitig aber stütze ich meine Forderung auf die Überzeugungen meiner Umgebung, auf die Vorurteile meiner menschlichen Umwelt (die anderen sind so sicher, daß
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