Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
Vom Netzwerk:
ins Auge sehen

    Ich kann jetzt den Begriff des Selbstmordes zu fassen suchen. Man hat schon gemerkt, welche Erklärung ihm möglicherweise gegeben werden kann. Hier liegt das Problem gerade umgekehrt. Vorher handelte es sich darum zu wissen, ob das Leben, um gelebt zu werden, einen Sinn haben müsse. Hier dagegen hat es den Anschein, daß es um so besser gelebt werden wird, je weniger sinnvoll es ist. Eine Erfahrung, ein Schicksal leben heißt: es ganz und gar auf sich nehmen. Nun wird man aber dieses Schicksal, von dem man weiß, daß es absurd ist, nicht leben, wenn man nicht alles tut, um vor sich selbst am Absurden, das das Bewußtsein zutage gefördert hat, festzuhalten. Auch nur eine Seite des Gegensatzes, von dem es lebt, aufgeben heißt: dem Problem ausweichen. Das Motiv der permanenten Revolution überträgt sich so auf die individuelle Erfahrung. Leben heißt: das Absurde leben lassen. Das Absurde leben lassen heißt: ihm ins Auge sehen. Im Gegensatz zu Eurydike stirbt das Absurde nur, wenn man sich von ihm abwendet. Eine der wenigen philosophisch stichhaltigen Positionen ist demnach die Auflehnung. Sie ist eine ständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Dunkelheit. Sie ist der Anspruch auf eine unmögliche Transparenz. Sie stellt die Welt in jeder Sekunde in Frage. Wie die Gefahr dem Menschen die unersetzliche Gelegenheit verschafft, sich des Bewußtseins zu bemächtigen, so breitet die metaphysische Auflehnung des Bewußtseins sich über die ganze Erfahrung aus. Sie ist die ständige Anwesenheit des Menschen bei sich selbst. Sie ist kein Sehnen, sie ist ohne Hoffnung. Diese Auflehnung ist die Gewißheit eines niederwerfenden Schicksals, nicht so sehr die Resignation, die sie begleiten sollte.
    Hier sehen wir, wie weit die absurde Erfahrung sich vom Selbstmord entfernt. Man könnte meinen, der Selbstmord sei eine Folge der Auflehnung. Aber zu Unrecht. Denn er stellt nicht deren logischen Abschluß dar. Er ist dank der Zustimmung, die ihm zugrunde liegt, genau ihr Gegenteil. Der Selbstmord ist, wie der Sprung, die Anerkennung ihrer Grenzen. Da alles verloren ist, kehrt der Mensch zu seinem wesentlichen Anliegen zurück. Er erkennt seine Zukunft, seine einzige und furchtbare Zukunft, und stürzt sich in sie hinein. Der Selbstmord hebt das Absurde auf seine Art auf. Er zieht es mit in den gleichen Tod. Ich weiß aber, daß das Absurde, um sich zu behaupten, sich nicht auflösen darf. Es entgeht dem Selbstmord in dem Maße, wie es gleichzeitig Bewußtsein und Ablehnung des Todes ist.
    Es ist in der äußersten Spannung des Gedankens dessen, der zum Tode verurteilt ist, jenes Schuhband, das er trotz allem ein paar Meter entfernt liegen sieht, selbst am Rande seines schwindelnden Sturzes. Das genaue Gegenstück zum Selbstmörder ist der zum Tode Verurteilte.

Revolte

    Diese Auflehnung gibt dem Leben seinen Wert. Erstreckt sie sich über die ganze Dauer einer Existenz, so verleiht sie ihr ihre Größe. Für einen Menschen ohne Scheuklappen gibt es kein schöneres Schauspiel als die Intelligenz im Kampf mit einer ihr überlegenen Wirklichkeit. Das Schauspiel des menschlichen Stolzes ist unvergleichlich. Alle Erwartungen können ihm nichts anhaben. Diese Zucht, die der Geist sich selber vorschreibt, dieser gehörig gehämmerte Wille, dieses Aug-in-Auge haben etwas Einzigartiges. Diese Wirklichkeit, deren Unmenschlichkeit die Größe des Menschen ausmacht, entleeren heißt: gleichzeitig sich selber entleeren. Ich verstehe also, warum die Doktrinen, die mir alles erklären, mich gleichzeitig schwächen. Sie befreien mich von dem Gewicht meines eigenen Lebens, und ich muß es dennoch allein ertragen. An dieser Wegbiegung kann ich nicht begreifen, daß eine skeptische Metaphysik sich mit einer Moral des Verzichts verbinden kann.
    Bewußtsein und Auflehnung - diese abschlägigen Antworten sind das Gegenteil von Verzicht. Allen Eigensinn und alle Leidenschaft, deren ein menschliches Herz fähig ist, beleben sie mit ihrem Leben. Es geht darum, unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen. Der absurde Mensch kann nur alles ausschöpfen und sich selber erschöpfen. Das Absurde ist seine äußerste Anspannung, an der er beständig mit einer unerhörten Anstrengung festhält; denn er weiß: in diesem Bewußtsein und in dieser Auflehnung bezeugt er Tag für Tag seine einzige Wahrheit, die Herausforderung. Das ist eine erste Schlußfolgerung.

Die Freiheit interessiert

Weitere Kostenlose Bücher