Der Nachbar
zurückgezogen in der Küche. An ein Verlassen des Hauses war nicht zu denken. Fotografen lauerten mit gezückten Teleobjektiven hinter der Absperrung am Ende der Straße, Schmarotzer des Unglücks, die nicht abzuschütteln waren.
Laura, deren eingefallenes, bleiches Gesicht tiefe Erschöpfung verriet, hatte sich auf einen Stuhl am Küchentisch gesetzt. Tyler schüttelte sachte den Kopf, als er zur Tür hereinkam und den Funken der Hoffnung in ihren Augen aufblitzen sah. »Immer noch nichts«, sagte er und zog sich ebenfalls einen Stuhl heraus. »Aber das ist ein gutes Zeichen, Laura. Wir sind zuversichtlich, dass sie am Leben ist.«
»Ja.« Sie drückte eine Hand auf ihr Herz. »Ich glaube, ich wüsste es, wenn sie tot wäre.«
Er ließ ihr die Illusion und lächelte aufmunternd. Hundertmal hatte er diese Worte schon gehört, aber das Band zwischen Menschen, die einander liebten, war geistiger, nicht körperlicher Natur, und der wahre Schmerz setzte erst ein, wenn der Tod Gewissheit war.
»Ich muss Sie noch um einige Auskünfte über Eddy Townsend bitten«, sagte er.
Abrupt senkte sie den Kopf, um ihre Augen zu verbergen, und er ärgerte sich, dass er sie vorher so billig hatte davonkommen lassen. Er hätte merken müssen, dass dieses zwanghafte Sich-Verstecken allzu ausgeprägte pathologische Züge hatte, um auf Rogerson allein beschränkt zu sein. Aber, fragte er sich, welches Geheimnis konnte so böse – oder verbrecherisch – sein, dass sie bereit war, das Leben ihrer Tochter zu riskieren, um es nicht preisgeben zu müssen. Und gab es ein Druckmittel, es ihr dennoch zu entlocken?
»Wir haben den Verdacht, dass er Amy bei sich hat«, erklärte er unumwunden. »Er ist vorzeitig aus Mallorca zurückgekommen, und gestern wurde in Portisfield ein Auto gesehen, das seines gewesen sein könnte. Vorn auf dem Beifahrersitz saß ein kleines Mädchen, auf das Amys Beschreibung passt.«
Ihre dunklen Augen sahen plötzlich so trostlos drein, dass er sofort wusste, dass sie von Beginn an etwas in dieser Richtung befürchtet hatte.
»Ich muss wissen, was sich abgespielt hat, Laura.«
Sie drückte die Stirn in ihre geöffneten Hände und presste die Ballen so gewaltsam gegen ihre Augenlider, als wollte sie sich blenden. Dann begann sie zu sprechen, und es war, als bräche ein Damm. »Er war so sympathisch... so charmant... ganz anders als Martin. Er hatte wirklich
Interesse
– an mir... an Amy. Es war so ganz anders... so
wunderbar
. Er nannte uns seine Prinzessinnen.« Halb schluchzend, halb lachend brach sie ab.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie das für uns war, nachdem wir von Martin zehn Jahre lang wie Dienstboten behandelt worden waren, die sich ständig für ihre Anwesenheit in seinem Haus entschuldigen mussten, nur auf Zehenspitzen herumschlichen, um ihn ja nicht zu stören, nie den Mund aufmachten, um ihm keinen Anlass zu geben, uns zu beschimpfen. Ach, ich hätte damals auf meinen Vater hören sollen. Er sagte gleich, Martin wolle nur ein Ausstellungsstück... ein hübsches Mädchen am Arm, zum Beweis, dass er ihn noch hoch kriegt...« Sie schwieg.
Tyler wartete. Er wollte die Geschichte in ihren Worten, nicht in seinen.
»Martin war außer sich, als ich ihm mitteilte, dass ich schwanger sei«, fuhr sie schließlich fort. »Er beschuldigte mich, es darauf angelegt zu haben. Wir hätten eine Abmachung, sagte er, keine Kinder, warum ich nicht verhütet hätte? Er wollte mich zu einem Abbruch zwingen. Sonst würde er mich ohne einen Penny an die Luft setzen, sagte er.« Ein sehr dumpfes Lachen. »Daraufhin bin ich zu einem Anwalt gegangen. Ich wollte wissen, ob ich im Fall einer Scheidung das Haus bekommen würde.«
Diesmal war das Schweigen endlos, als ließe sie die ganze Episode noch einmal vor sich ablaufen.
»Und wie ging es weiter?«
»Sie gehörten derselben Loge an. Ich hätte wissen müssen, dass sie... Die machen doch alle gemeinsame Sache, diese Anwälte. Nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere.« Sie zog sich das Haar übers Gesicht. »Kommen Sie, geben Sie meinem Mandanten eine Chance... Ich kenn den Richter, wenn er ein Auge zudrücken soll, brauchen Sie's nur zu sagen... Ich hab einen guten Draht zur Polizei... Die ganze Justiz ist korrupt.«
Er fühlte sich zur Verteidigung genötigt. »So ist es wirklich nicht, Laura. Die Freimaurer sind an Regeln gebunden wie alle anderen.«
»Gehören Sie auch zu denen?«
»Nein.«
»Dann versuchen Sie nicht, sie in Schutz zu
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