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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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durchaus sympathischer Mensch... ein großartiger Musiker... sehr scheu. Häufig zieht er sich ganz in sich selbst zurück und lauscht irgendwelchen Jazzmelodien. Die Musik spielt natürlich nur in seinem Kopf... Stücke, die er selbst komponiert oder die er gehört hat. Er ist in hohem Maß gefühlsgehemmt und ein sehr introvertierter Mensch, und genau da liegt die Gefahr für Bobs Verlobte. Ich kann Ihnen meine Aufzeichnungen über ihn faxen. Sie sind allerdings nicht einfach zu lesen – handschriftliche Übertragungen der Bandaufzeichnungen, die ich bei meinen Gesprächen mit ihm gemacht habe –, aber sie würden Ihnen immerhin eine Vorstellung davon geben, mit was für einem Menschen Sie es zu tun haben. Der mit Maschine geschriebene Abschlussbericht liegt bei mir im Büro... Ich bin gern bereit, dorthin zu fahren, aber dann werden Sie noch einmal eine halbe Stunde länger auf die Informationen warten müssen.«
    »Faxen Sie die Aufzeichnungen«, sagte Harry. »Aber vorher hätte ich gern ein Kurzgutachten. Macht diese emotionale Gehemmtheit den Mann gefährlich? Wäre ihm eine Vergewaltigung zuzutrauen?«
    Chandler bedachte die Frage sorgfältig. »Unter normalen Umständen, nein«, antwortete er dann. »Sein Sexualtrieb ist nicht sonderlich stark ausgeprägt, und seine Vorliebe gilt eindeutig jungen Männern. Die Vorstellung der Penetration ist ihm zutiefst widerwärtig, und wenn irgend möglich, unterdrückt er die Ejakulation. Man könnte es mit der Stuhlverhaltung bei Kindern vergleichen, die sich weigern, elterliche Erwartungen zu erfüllen. Ihm graut bei dem Gedanken daran, seinen Samen auszuschütten. Das heißt nicht, dass ihn der Orgasmus nicht interessiert – aber es hat damit bei ihm etwas ganz Eigenes auf sich: Indem er andere sexuell erregt und befriedigt, manipuliert er sie. Schlicht gesagt – jeden, dem er sexuelle Lust verschafft, beherrscht er, solange der andere aus seinen Anwendungen Lust zieht. In den drei Fällen sexueller Belästigung, derentwegen er verurteilt wurde, waren die Jungen, mit denen er es zu tun hatte, bereits homosexuell aktiv – das gaben alle drei damals zu. Sie gaben ferner zu, in Zelowski verliebt gewesen zu sein und ihn mit ihren Aufmerksamkeiten penetrant verfolgt zu haben, bis er ihnen gab, was sie wollten, um sie unter Kontrolle zu bekommen. Sie schilderten ihn alle als einen emotionslosen Menschen, was nicht heißt, dass er sich nicht von ihnen angezogen fühlte, nur eben dass er seine Gefühle nicht zeigt.«
    »Aber er
ist
pädophil?«
    »Ja. Insoweit als er an einer psychosexuellen Störung leidet, die bewirkt, dass er sich zu halbwüchsigen Knaben hingezogen fühlt. Aber ich bezweifle, dass er irgendetwas unternommen hätte, wenn nicht die Jungen ihm vorher entgegengekommen wären. Er ist ein angenehmer Mensch. Redet nicht viel – ist dafür ein umso besserer Zuhörer. Im Gefängnis schloss er sich den Samaritern an. Er hat oft stundenlang bei Suizidgefährdeten gesessen und sich ihre Geschichten angehört. Internalisierte Ängste und Schmerzen versteht er besser als die meisten.«
    »Warum haben die Jungen ihn angezeigt?«
    »Das haben sie nicht getan. Er wurde mit dem Letzten in flagranti ertappt und gestand die beiden anderen Geschichten bei der Vernehmung. Die
Eltern
bestanden auf einer Strafverfolgung – sie brauchten jemanden, den sie für die Homosexualität ihrer Söhne verantwortlich machen konnten –, und der Richter statuierte ein Exempel an ihm. Es ist eine ganz alltägliche Geschichte. Wir leben in einer puritanischen Gesellschaft, die einfach nicht anerkennen will, dass Kinder sexuelle Gefühle haben. Kein Gericht würde heute wagen, die Auffassung zu vertreten, dass ein Halbwüchsiger ein Verführer sein kann, wenngleich die Statistiken zeigen, dass in England die Zahl der Schwangerschaften Jugendlicher europaweit am höchsten ist.« Seine Stimme klang ärgerlich. »Das ist sexuelle Neugier, Herrgott noch mal! Die gibt es seit Jahrhunderten, und willkürliche Gesetze, die eine Altersgrenze für die Ausübung der Sexualität festlegen wollen, ändern daran gar nichts. Man muss Überzeugungsarbeit leisten. Zwang bewirkt nichts.«
    Harry, der immer wieder mit den Konsequenzen solcher frühen Schwangerschaften für die Mädchen und ihre entsetzten Eltern zu tun hatte, war seiner Meinung, doch dies war nicht der Moment zu einer Diskussion über das Thema. »Könnten ungewöhnliche Umstände eine Rolle spielen? Halten Sie in einer Situation wie der

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