Der Nachbar
eine Notiz. »Hat der Vater gearbeitet?«
»Zeitweise. Als Hilfsarbeiter.« Ein sarkastischer Unterton wurde in Chandlers Stimme hörbar. »Eher selten, habe ich den Eindruck. Milosz hat mir erzählt, dass er Asthmatiker ist und deshalb häufig zu schlecht beieinander war, um arbeiten zu können. Für mich klang das, ehrlich gesagt, nicht sehr überzeugend. Wenn Sie mich fragen, hatte er einfach keine Lust zu arbeiten und hat sich vom Staat aushalten lassen.«
»Hm.« Harry fragte sich, ob die Panikattacke, derentwegen der Sohn einen Arzt angefordert hatte, überhaupt echt gewesen war. »War die Mutter auch Polin?«
»Nein, Engländerin. Milsoz erinnert sich kaum an sie, er weiß nur noch, dass sie blond war. Sein Vater lehnte es ab, über sie zu sprechen. Er hat seinem Sohn nur erzählt, dass er im Krieg nach Spanien geflohen ist, um den Romaverfolgungen der Nazis zu entkommen, dann Anfang der Fünfzigerjahre nach England kam und Milosz' Mutter heiratete, um ein Aufenthaltsrecht zu erwerben. Er behauptete, sie wäre ein Straßenmädchen gewesen, als er sie kennen lernte, und hätte dieses Gewerbe wieder aufgenommen, nachdem er sie hinausgeworfen hatte, weil er sie mit einem anderen im Bett ertappt hatte.«
»Warum hat sie ihren Sohn nicht mitgenommen?«
»Wer kann das sagen? Vielleicht durfte sie nicht? Vielleicht konnte sie es sich finanziell nicht leisten?«
»Und was empfindet er bei dem Gedanken an seine Mutter?«
»Gar nichts angeblich – und wahrscheinlich stimmt das auch in gewisser Hinsicht. Es gelingt ihm so gut, alle Gefühle zu unterdrücken, dass ihm die Zurückweisung durch seine Mutter nicht schlimmer erscheint als die durch irgendeinen Fremden. Er hat gelernt, sich die Menschen gewissermaßen aus der Seele zu schneiden – er ersetzt sie durch Musik. Tatsache ist, dass bei der Erinnerung an seine Entlassung als Musiklehrer ein höherer Grad seelischer Erschütterung bei ihm festzustellen war, als bei Gesprächen über seine Mutter.«
»In welcher Hinsicht ist er nicht in Ordnung?«
Wieder eine nachdenkliche Pause. »Nach seiner Verurteilung versuchte er, sich den Penis abzuschneiden – er säbelte mit einem Plastikmesser an ihm herum. Es hat natürlich nicht geklappt, aber er erklärte mir später, er habe sich kastrieren wollen. Über den Grund wollte er nicht mehr sagen, als dass er sich schämte, was meiner Ansicht nach darauf schließen lässt, dass er von gewissen heftigen Emotionen bewegt wird, zu denen er sich nicht bekennt.«
»Was ist mit seinem Vater? Wie sind seine Gefühle ihm gegenüber?«
»Neutral. Er empfindet weder Liebe noch Hass – ich vermute, es ist die Beziehung in seinem Leben, in der er sich am wohlsten fühlt. Er beherrscht seinen Vater seit seinem fünften Lebensjahr, er kennt ihn also in- und auswendig und braucht keine Überraschungen von ihm zu fürchten. Ich hielt es für wichtig, diese Abhängigkeit zu zerschlagen – nicht weil der Missbrauch weitergeht – er hörte auf, als Milosz in die höhere Schule kam –, sondern weil er seine Gefühle nach außen tragen muss, anstatt sie in seinem Inneren hinter Jazzmelodien zu verschließen.«
Harry raufte sich beinahe verzweifelt das Haar. Dies alles ging um einiges über sein Verständnis der menschlichen Psyche hinaus. »Wie soll ich also mit ihnen umgehen? Was soll ich tun, wenn Bob noch nicht hier ist und Sophie einem der beiden ihr Telefon gibt und die Verhandlungen mir überlässt?«
Wieder trat ein längeres Schweigen ein. »Sie sind beide auf unterschiedliche Art gefährliche Egozentriker«, sagte Chandler dann. »Der eine ein extrovertierter Sadist, der seine Lustbefriedigung außen sucht, der andere introvertiert und gehemmt, ganz auf sich selbst bezogen. Beide werden sie Sophie nicht als Menschen sehen, sondern lediglich als ein Mittel zum Zweck.«
»Zu welchem Zweck«
»Das kommt ganz darauf an. Für den einen ist sie vielleicht ein Objekt der Begierde. Für den anderen nur eine Geisel, die seine Sicherheit gewährleisten soll. Vielleicht ist sie aber für den einen auch das eine
und
das andere. Oder für beide. Es gibt da endlose Variationen, Harry. Sie können nur genau hinhören, was die beiden sagen, und versuchen, sich einen Reim darauf zu machen.«
Allenby Road 14, Portisfield
Bei den Logans hatte sich nichts geändert, außer dass Kimberley endlich zu weinen aufgehört hatte. Barry und Gregory saßen immer noch mit mürrischen Gesichtern im Wohnzimmer vor dem Fernseher, und Laura blieb
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