Der Nachtwandler
schlurfte aus dem Bad und schlich sich wie ein Einbrecher den Flur entlang: langsam, vorsichtig und bemüht, kein Geräusch zu machen, was nahezu unmöglich war, da sich seine Bauarbeiterstiefel mit Wasser vollgesogen hatten und bei jedem Schritt knarzten. Zudem hatte er Mühe, den linken Stiefel nicht zu verlieren, dem aus irgendeinem Grund der Schnürsenkel fehlte.
Etwas Wasser befand sich immer noch in seiner Luftröhre. Leon schaffte es nicht, den Hustenreiz zu unterdrücken. Dass die Person vor der Tür ihn hören würde, stand allerdings nicht zu befürchten, angesichts des Krachs, den diese selbst verursachte.
Wer zum Teufel ist das?
Leon sah durch den Spion und schloss erleichtert die Augen.
»Gott sei Dank«, sagte er und hätte vor Freude am liebsten geweint.
Das Klopfen und Klingeln verstummte.
»Leon?«, fragte Sven durch die Tür.
»Ja.«
»Was soll das? Mach endlich auf!«
»Moment, gleich.«
Leon tastete seine Taschen ab und war erstaunt, darin das Bund zu finden, das er zuletzt im Labyrinth in dem Schloss der ACHTUNG-Tür steckengelassen hatte.
Wie kommen sie auf einmal wieder in meine Hose?
Er hatte einige Mühe, den Schlüssel aus der feuchten Tasche zu ziehen, dann öffnete er seinem Freund, der wild gestikulierend an ihm vorbei in die Wohnung drängte.
»Leon, ich stehe jetzt schon eine Viertelstunde vor deiner … Oh Gott.« Jedes Anzeichen von Wut war aus Svens Gesicht verschwunden, kaum hatte er Leon angesehen.
»Um Himmels willen, was ist denn mit dir passiert?«, fragte er. Zumindest vermutete Leon, dass Sven es fragen wollte, denn dessen Stottern war so schlimm wie selten zuvor.
»Gut, dass du da bist«, sagte Leon und drehte sich nach links zu dem Spiegel neben der Garderobe. Sofort verstand er, weshalb Sven ihn so entsetzt musterte. Er trug noch immer seinen Blaumann, nur war der jetzt schwarz vor Nässe, oder wegen des Bluts, und das war noch das Vertrauenerweckendste an seiner Erscheinung. Sein Gesicht sah aus, als hätte er sich erst wie ein Clown geschminkt und dann den Kopf unter Wasser getaucht: schwarzrote Flecken und Schlieren zogen sich über Stirn und Wange bis zum Kinn. Rußartiger Dreck hatte seine Haare zu Strähnen gebündelt, die teilweise wirr abstanden oder ihm wie Algen am Schädel klebten. Seine rot entzündeten, in tiefen Gruben liegenden Augen vervollständigten den Eindruck eines Schwerkranken, dem der Ausbruch der schlimmsten Symptome erst noch bevorstand.
»Ich brauche deine Hilfe«, krächzte Leon, dem sein eigener Anblick die Stimme verschlagen hatte.
»Hast du einen Burnout?«, fragte Sven, bemüht, kurze Sätze zu bilden.
»Nein, es ist nicht die Arbeit.« Leon kicherte, weil ihm die Frage so absurd erschien. »Ich hab nicht mehr gearbeitet, seitdem das Modell verschwunden ist.«
»Verschwunden?« Sven starrte seinen Freund womöglich noch fassungsloser an als bislang.
»Ja. Weg. Nicht mehr da. Wie Natalie. Das habe ich dir doch gesagt. Ich glaube, unsere Arbeit ist auch da unten bei ihr im Labyrinth.«
»Wo?«
»In dem Labyrinth, das ich hinter meinem Schrank entdeckt habe. Komm, ich zeig dir die Tür.«
Leon griff nach Svens Hand, aber der entzog sich rechtzeitig, bevor sich ihre Finger berührten.
»Du hast Fieber!«
»Nein. Ja, mag sein. Keine Ahnung.«
Leon suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um Sven den Wahnsinn zu erklären, in dem er gefangen war, und als er sie nicht fand, presste er sich verzweifelt die Fäuste gegen die Schläfen. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Bitte, ich flehe dich an. Lass mich dir die Tür zeigen.«
Eine Zeitlang standen sie einander schweigend gegenüber, dann endlich nickte Sven zögernd und seufzte. »Okay.«
Leon war erleichtert. »Sehr gut. Danke. Ich danke dir. Komm mit.«
Er drehte sich alle zwei Schritte um, um sicherzugehen, dass Sven ihm auch folgte. »Da ist sie«, sagte er, als sie im Schlafzimmer angekommen waren.
»Wo?«
»Hier …«
Leon trat an die Seitenwand des Bauernschranks und stemmte sich mit beiden Händen dagegen, wie ein Jogger, der seine Muskeln dehnen will, bevor er losrennt.
»Ich muss nur kurz das Ding verrücken, um …«
Leon hielt verdutzt inne. Obwohl er all seine Kraft aufbrachte, ließ der Schrank sich nicht einmal mehr einen Millimeter zur Seite schieben.
»Hilf mir mal«, bat er, doch Sven hob nur abwehrend die Hände.
»Ich hab genug gesehen.«
Sein Blick wanderte über das Chaos, das Leon in den letzten Tagen im Schlafzimmer
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