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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Tempel.
    In den Tempelwänden befindet sich ein ganzes Dutzend Türen, aber Poppet findet auf Anhieb eine, die zurück in den Zirkus führt.
    Sie wirkt noch immer verängstigt, doch bevor Bailey sie fragen kann, was denn los sei, schaut Widget auf die Uhr und stellt fest, dass sie sich beeilen müssen, um pünktlich zu ihrer Vorstellung zu kommen. Sie verabreden sich für später, und die Zwillinge verschwinden in der Menge.
    Bailey, der die Kätzchen in den vergangenen paar Nächten so oft gesehen hat, dass er ihre Nummern schon auswendig kennt, zieht es vor, die Wartezeit mit einem Erkundungsgang zu überbrücken.
    Er wählt einen Weg ohne erkennbare Türen, einen Durchgang zwischen zwei Zelten, endlose Streifenbahnen, erhellt von flackernden Lichtern.
    Bailey fällt eine unebene Stelle im schwarzweißen Muster der Planen auf; bei genauerem Hinsehen entdeckt er einen Schlitz in der Zeltwand. Eine Öffnung im Stoff, beide Ränder sind mit silbrigen Ösen gesäumt, und direkt über seinem Kopf hängt ein loses schwarzes Band, als müsste der Tunnel hier eigentlich geschlossen sein. Er fragt sich, ob jemand vom Zirkus wohl vergessen hat, die Planen zusammenzubinden.
    Dann fällt ihm ein Schild ins Auge. Es hat die Größe einer Postkarte und baumelt an dem schwarzen Band wie eine Geschenkkarte an einem Päckchen. Das Schild hängt nur ein paar Fuß über dem Boden. Bailey nimmt es in die Hand und dreht es um. Auf der Bildseite sieht man eine schwarzweiße Radierung, die ein Kind in einem gemütlichen Bett mit vielen Kissen und einer karierten Decke zeigt, aber nicht in einem Kinderzimmer, sondern unter dem freien Nachthimmel. Auf der anderen Seite steht in eleganter schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund:
    Gutenachtgeschichten
    Schlaf- und Wiegengesänge
    Erinnerungs-Archiv
    Bitte vorsichtig eintreten
    und nach Belieben öffnen, was verschlossen ist.
    Bailey ist unsicher, ob das Schild zum Schlitz in der Zeltbahn gehört oder aus einem anderen Zelt stammt und irrtümlich hierhin gelangte. An den meisten Zelten hängen bemalte Holzschilder an gut sichtbaren Stellen, und die Eingänge sind deutlich gekennzeichnet oder markiert. Dieses aber scheint nicht dazu bestimmt, entdeckt zu werden. Andere Besucher laufen ins Gespräch vertieft an ihm vorbei, ohne zu bemerken, dass er das postkartengroße Schild mustert.
    Zaghaft zieht Bailey die offenen Zeltklappen ein Stück auseinander und versucht zu erkennen, ob es sich um eine Zirkusattraktion und nicht etwa um den Hintereingang zu einem Artistenzelt oder irgendeinen Lagerraum handelt. Er sieht allerdings nur einige glitzernde Lichter und schemenhafte Schatten, die Möbel sein könnten. Noch immer verunsichert, öffnet er die Planen ganz und tritt mit der auf der Postkarte empfohlenen Vorsicht ein, was sich als klug erweist, denn er läuft direkt gegen einen Tisch, auf dem jede Menge Gläser, Flaschen und abgedeckte Schüsseln klirrend aneinanderstoßen. Er versucht möglichst still zu stehen und hofft, dass nichts umgefallen ist.
    Es ist ein langer Raum von der Größe eines herrschaftlichen Speisezimmers, aber vielleicht wirkt er auch nur so aufgrund des Tisches, der sich über die gesamte Zeltlänge erstreckt und gerade noch ausreichend Platz lässt, ihn vorsichtig zu umrunden. Die Gläser und Flaschen darauf sehen alle verschieden aus. Einige sind gewöhnliche Einweckgläser mit Schraubverschluss, andere sind aus glasierter Keramik oder verziertem Milchglas. Auch Flaschen für Wein, Whisky und Parfüm sind darunter. Zuckerdosen mit silbernem Deckel und Gefäße, die aussehen wie Urnen. Sie stehen wild verstreut auf dem Tisch und haben offenbar keine besondere Ordnung oder Reihenfolge. An den Wänden stehen weitere Gläser und Flaschen, einige auf dem Boden, einige auf Kisten und auf hohen Holzregalen.
    Das Einzige, was in diesem Raum mit dem Bild auf dem postkartengroßen Schild übereinstimmt, ist die Decke. Sie ist schwarz und mit winzigen Glitzerlichtern übersät. Von unten sieht sie fast so aus wie ein echter Nachthimmel.
    Während Bailey den Tisch umrundet, überlegt er, was das alles mit einem Kind im Bett oder mit Gutenachtgeschichten zu tun haben soll.
    Ihm fällt ein, dass es auf dem Schild um das Öffnen von Dingen ging, und er fragt sich, was wohl in all den Gläsern sein könnte. Die meisten durchsichtigen sehen leer aus. Als er ans andere Ende des Tisches kommt, nimmt er aufs Geratewohl ein kleines schwarz glänzendes Keramikgefäß, öffnet den mit einem

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