Der Nachtzirkus
über ihren Hals streifen.
Im Zimmer nebenan klagen die Gäste über die plötzlich gestiegene Temperatur. Fächer werden aus bunten Handtaschen gezogen, sie flattern wie tropische Vögel.
Im Schatten der Statue mit dem Elefantenkopf löst Celia sich unvermittelt von Marco. Der Grund dafür wird erst ersichtlich, als graue Schlieren ihr grünes Kleid durchziehen.
»Hallo, Alexander«, sagt sie und nickt dem Mann zu, der lautlos hinter ihnen erschienen ist, ohne auch nur ein Rosenblatt am Boden aufzustören.
Der Mann im grauen Anzug begrüßt sie mit einem höflichen Nicken. »Miss Bowen, dürfte ich Ihren Gefährten kurz unter vier Augen sprechen?«
»Natürlich«, sagt Celia und geht, ohne Marco anzusehen. Als sie durch die Eingangshalle zu den Murray-Zwillingen eilt, die ihre Kätzchen mit silberglänzenden Kaffeelöffeln locken, wechselt ihr Kleid von Morgendämmerungsgrau zu Sonnenuntergangsviolett.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Verhalten angemessen finde«, sagt der Mann im grauen Anzug zu Marco.
»Sie kennen sie«, sagt Marco leise, den Blick noch immer auf Celia gerichtet, deren Kleid scharlachrot anläuft, als Herr Thiessen ihr am Eingang zum Ballsaal ein Glas Champagner anbietet.
»Ich bin ihr ein Mal begegnet. Von Kennen kann wirklich keine Rede sein.«
»Sie wussten genau, wer sie war, noch bevor das Ganze hier anfing, und sind nie auf den Gedanken gekommen, es mir zu sagen?«
»Ich dachte, das sei nicht nötig.«
Eine Gästegruppe kommt vom Speisezimmer in die Eingangshalle und bringt die Rosenblätter erneut zum Wirbeln. Marco begleitet den Mann im grauen Anzug durch die Bibliothek, schiebt die Buntglastafel beiseite und tritt in das leere Spielezimmer, um die Unterhaltung dort fortzusetzen.
»Dreizehn Jahre höre ich kaum ein Wort, und jetzt möchten Sie mit mir reden?«, sagt Marco.
»Meinerseits gibt es nichts Spezielles zu besprechen. Ich wollte nur deine … Unterhaltung mit Miss Bowen beenden.«
»Sie kennt Ihren Namen.«
»Sie hat wirklich ein sehr gutes Gedächtnis. Worüber möchtest du denn nun mit mir sprechen?«
»Ich würde gern wissen, ob ich meine Sache gut mache«, sagt Marco mit leiser, kalter Stimme.
»Du hast Fortschritte gemacht«, sagt sein Lehrmeister. »Deine Stellung hier ist gefestigt, du hast eine günstige Ausgangsposition, von der aus du arbeiten kannst.«
»Und trotzdem darf ich nicht ich selber sein. Sie bringen mir alles Mögliche bei, und dann stellen Sie mich hier ab, und ich muss mich als jemand ausgeben, der ich gar nicht bin. Sie dagegen steht im Mittelpunkt und darf das tun, was ihr liegt.«
»Aber niemand in diesem Haus nimmt ihr das ab. Alle glauben, sie täuscht nur etwas vor. Sie durchschauen sie genauso wenig wie dich, sie ist nur wahrnehmbarer. Es geht nicht darum, etwas vor Publikum zu tun. Das ist der Punkt, auf den es mir ankommt. Du kannst dasselbe tun wie sie, ohne es als großartiges Spektakel zu verkaufen. Du kannst einigermaßen anonym bleiben und ihren Leistungen gleichkommen. Ich schlage vor, du hältst dich von ihr fern und konzentrierst dich auf deine Arbeit.«
»Ich liebe sie.«
Marco hat bisher noch nie etwas gesagt oder getan, was dem Mann im grauen Anzug eine Reaktion entlockt hätte, selbst damals nicht, als er während des Unterrichts versehentlich einen Tisch in Brand gesetzt hatte. Jetzt aber wird das Gesicht des Mannes unverkennbar traurig.
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagt er. »Das wird die Prüfung sehr erschweren.«
»Wir spielen das jetzt schon über zehn Jahre, wann hört es denn auf?«
»Es hört auf, wenn es einen Sieger gibt.«
»Und wie lange dauert das?«
»Schwer zu sagen. Die letzte Herausforderung zog sich über siebenunddreißig Jahre hin.«
»Wir können den Zirkus nicht siebenunddreißig Jahre am Laufen halten.«
»Dann ist deine Wartezeit eben nicht mehr so lang. Du warst ein guter Schüler, du bist ein guter Konkurrent.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragt Marco gereizt. »Sie haben es jahrelang nicht für angebracht gehalten, mit mir zu sprechen. Ich habe nichts für Sie getan. Was ich getan habe, jede Veränderung, die ich in diesem Zirkus vorgenommen habe, jeder übermenschliche Kraftakt und jede verblüffende Attraktion, habe ich allein für Celia getan.«
»Deine Motive haben keinen Einfluss auf das Spiel.«
»Ich habe es satt, Ihr Spiel zu spielen«, sagt Marco. »Ich steige aus.«
»Du kannst nicht aussteigen«, erwidert sein Lehrmeister. »Du bist daran
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