Der Nachtzirkus
dazu bin ich nicht bereit, auch nicht für dich.«
»Wie oft hast du mich angelogen?«, fragt Lainie und erhebt sich von ihrem Stuhl.
»Ich habe nie gelogen«, kontert Mr Barris und steht ebenfalls auf. »Ich behalte für mich, worüber zu sprechen mir nicht gestattet ist. Ich habe mein Wort gegeben, und ich habe die Absicht, es zu halten, aber ich habe dich nie angelogen. Du hast mich nie gefragt, weil du dachtest, ich wüsste nichts.«
»Tara hat dich gefragt«, entgegnet Lainie.
»Indirekt. Ich glaube, sie wusste nicht genau, wonach sie fragen sollte, und wenn sie es getan hätte, hätte ich nicht geantwortet. Ich habe mir Sorgen um sie gemacht und vorgeschlagen, sie solle mit Alexander sprechen, wenn sie Antworten will. Ich nehme an, deswegen war sie auf dem Bahnhof. Ich weiß nicht, ob sie je mit ihm gesprochen hat. Ich habe nicht gefragt.«
»Alexander weiß auch Bescheid?«, fragt Lainie.
»Ich glaube, es gibt wenig, wenn überhaupt etwas, von dem er nichts weiß.«
Lainie seufzt und kehrt zurück zu ihrem Stuhl. Sie hebt die Tasse hoch und stellt sie dann, ohne getrunken zu haben, wieder hin.
Mr Barris geht um den Schreibtisch herum zu ihr, nimmt ihre Hand und wartet, bis sie ihn ansieht, bevor er sagt: »Wenn ich könnte, würde ich es dir erzählen.«
»Das weiß ich, Ethan. Wirklich.« Sie drückt ihm beruhigend die Hand.
»Mir macht das nichts aus, Lainie«, sagt Mr Barris. »Ich ziehe alle paar Jahre mit meinem Büro um und stelle einen neuen Assistenten ein. Ich verfolge meine Projekte per Korrespondenz, das lässt sich gut einrichten, wenn man bedenkt, was ich im Gegenzug bekomme.«
»Verstehe«, sagt sie. »Wo ist der Zirkus jetzt?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, vor kurzem hat er Budapest verlassen, aber ich habe keine Ahnung, wohin er unterwegs ist. Ich kann es herausfinden. Friedrick weiß es bestimmt, und ich bin ihm noch ein Telegramm schuldig.«
»Und woher kennt Herr Thiessen die Reiseroute des Zirkus?«
»Von Celia Bowen.«
Lainie stellt ihm keine weiteren Fragen.
Mr Barris ist erleichtert, dass sie seine Einladung zum Abendessen annimmt, und das umso mehr, als sie außerdem einwilligt, ihren Aufenthalt in der Schweiz zu verlängern, bevor sie dem Zirkus nachreist.
*
Gleich nach ihrer Ankunft lädt Lainie Celia ein, sie im Pera Palace Hotel in Konstantinopel zu besuchen, sobald sie die Stadt erreicht. Sie wartet im Teesalon, auf dem gekachelten Tisch vor ihr stehen zwei leicht dampfende, tulpenförmige Gläser mit passenden Untertassen.
Als Celia eintrifft, begrüßen sie sich herzlich. Celia erkundigt sich, wie Lainies Reise war, dann sprechen sie über die Stadt und das Hotel und die beeindruckende Höhe des Raums, in dem sie sitzen.
»Es ist fast wie im Akrobatenzelt«, bemerkt Lainie und blickt zu den Kuppeln in der Decke hinauf, in die umlaufende Bänder aus türkisfarbenem Glas eingelassen sind.
»Du bist viel zu lange nicht mehr im Zirkus gewesen«, sagt Celia. »Wir haben deine Kostüme dabei, wenn du willst, kannst du heute Abend bei den Statuen mitmachen.«
»Danke, aber lieber nicht«, sagt Lainie. »Ich bin nicht in der Stimmung, so still zu stehen.«
»Du bist jederzeit willkommen«, sagt Celia.
»Ich weiß. Aber um ehrlich zu sein, bin ich nicht wegen des Zirkus hier. Ich bin hier, um mit dir zu sprechen.«
»Worüber möchtest du denn sprechen?«, fragt Celia, und ihre Miene wird besorgt.
»Meine Schwester wurde nach einem Besuch im Midland Grand Hotel auf dem Bahnhof St. Pancras umgebracht«, sagt Lainie. »Weißt du, was sie dort wollte?«
Celia umklammert ihr Teeglas fester.
»Ich weiß, wen sie dort getroffen hat«, sagt sie, ihre Worte mit Bedacht wählend.
»Ich nehme an, das hat dir Ethan gesagt«, erwidert Lainie.
Celia nickt.
»Weißt du, warum sie ihn sehen wollte?«, fragt Lainie.
»Nein, keine Ahnung.«
»Weil sie ein komisches Gefühl hatte«, sagt Lainie. »Sie hat instinktiv gespürt, dass ihre Welt sich verändert hatte, und sie hatte keine Erklärung dafür, begriff es nicht, hatte nichts, woran sie sich klammern konnte. Ich glaube, wir haben alle dasselbe gespürt, nur gehen wir anders damit um. Ethan und Tante Padva haben ihre Arbeit, um sich die Zeit zu vertreiben und auf andere Gedanken zu kommen. Ich hatte mich auch eine Weile nicht mehr damit befasst. Ich habe meine Schwester sehr geliebt und werde sie immer lieben, aber ich glaube, sie hat einen Fehler gemacht.«
»Ich dachte, es war ein Unfall«, sagt Celia
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